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Das Loch: Der letzte Film von Jacques Becker ist ein klaustrophobisches Meisterwerk

1960 – also im Todesjahr des französischen Regisseurs Jacques Becker – kam dessen letzter Film Das Loch (im Original: Le Trou) in die Kinos. Das Drama um einen wirklich passierten Gefängnisausbruch floppte zwar, wird inzwischen aber als das charakterstarke Meisterwerk erkannt, das es ist.

23. November 2023

Eine schwere Metallstange knallt auf Beton. Immer und immer wieder. Ein fieses Geräusch. Brutal. Klirrend. Irgendwie scharf, als könne es einem das Trommelfell zerschneiden. Mit stoischem Kamerablick schauen wir dem Häftling Roland Darbant über die Schulter. Die kurze, an einem Ende etwas dickere Metallstange hat er von dem einen Bett in der Zelle geschraubt, das eh nicht genutzt wird, weil die Einzelzelle mit fünf Mann belegt ist und man aus Platzgründen auf blanken Matratzen schlafen muss. Roland bearbeitet die Ecke des Zimmers. Das grobe Holzparkett hat er behutsam entfernt, nun versucht er die Betonschicht darunter zu zertrümmern. Regisseur Jacques Becker gönnt uns dabei keine Pause. Seine Kamera zeigt diese zermürbende, harte Arbeit. Er filmt sie nicht komplett in Echtzeit, bis das titelgebende Loch zum Keller des Pariser Gefängnisses La Santé endlich offen ist, aber man bekommt schon nach gut fünf Minuten ein Gefühl dafür, was es an Kraft und Entschlossenheit dafür braucht. Und überhaupt: Wann hat man denn zuletzt fünf Minuten lang auf dem Fernseher oder im Kino einem Mann dabei zugeschaut, wie er auf Beton hämmert? Ohne Schnitte? Ohne Musik? Ohne Dialog?

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Nach einer wahren Geschichte

Man merkt also: Jacques Becker geht in diesem fesselnden, klaustrophobischen Gefängnisdrama sehr eigene Wege. Lange Dialoge gibt es kaum, Schnitte im Schnitt nur alle vier Minuten, Musik nur im Abspann. Außerdem erzählt Becker eine im Kern wahre Geschichte und tut das in enger Abstimmung mit einem Teil jener fünf Häftlinge, die sie erlebt haben. Die Vorgeschichten und Verbrechen der Fünf erfahren wir dabei nur rudimentär. Das Drehbuch zu Das Loch schrieb Becker mit dem renommierten Scriptwriter Jean Aurel und mit José Giovanni. Letzterer veröffentlichte 1957 die Romanvorlage "Le Trou". Er war eines der historischen Vorbilder. Im Film heißt er Manu. Jean Keraudy, ein damaliger Mithäftling Giovannis, spielte als Roland im Film dieselbe Rolle wie bei seinem realen Gefängnisausbruch. Interessanterweise heißt er tatsächlich bürgerlich Roland Barbat und nutzte Jean Keraudy hier und später als Künstlername, um seine Identität zu verschleiern.

Barbat (den man auf dem Foto zu diesem Artikel sieht) war der kreative Kopf hinter dem realen Ausbruch und ist der mit Abstand spannendste Charakter. Schon zu Kriegszeiten brach Roland Barbat im von Deutschland besetzten Teil des Landes in Rathäuser ein, um Pässe und Essensmarken zu stehlen. 1943 wurde er zum ersten Mal inhaftiert – und schaffte immer wieder auszubrechen. Damals nannte man Barbat gar den "Ausbruchskönig". Aus dem Gefängnis La Santé entkam Barbat bereits 1946 auf spektakuläre Weise – wurde später jedoch wieder aufgegriffen und erneut dort inhaftiert. Der Ausbruch im Jahr 1947, der zwar formal gelang, aber vor der Flucht aufflog, war dann die Vorlage für José Giovannis Roman und den späteren Film. Giovanni heißt im Film Manu und wird von Philippe Leroy gespielt. Er ist bärbeißig, entschlossen, misstrauisch. Vor allem gegenüber dem Neuzugang Claude Gaspard (Marc Michel), der kurz vor Beginn des Lochgrabens in die Zelle versetzt wird. Nicht zu Unrecht, wie man später erfahren wird.

Mit zwei beim Gefängnisarzt geklauten Fläschchen basteln die Inhaftierten eine Sanduhr, damit sie wissen, wie lange sie schon arbeiten. Der Film hat einen sehr genauen Blick auf die cleveren Handgriffe des Ausbruchsplans. © Arthaus / Studiocanal

Mit zwei beim Gefängnisarzt geklauten Fläschchen basteln die Inhaftierten eine Sanduhr, damit sie wissen, wie lange sie schon arbeiten. Der Film hat einen sehr genauen Blick auf die cleveren Handgriffe des Ausbruchsplans. © Arthaus / Studiocanal

José Giovannis Vergangenheit als Kollaborateur lauert im Hintergrund

Die Verankerung in einer realen Geschichte, die Laiendarsteller, der genaue Blick auf die planerischen Details und Handgriffe der Flucht, die konzentrierte Ästhetik – all das macht Jacques Beckers letzten Film zu einer Seherfahrung der besonderen Art. Das Loch ist dabei zugleich meditativ und klaustrophobisch. Man fühlt sich selbst wie ein Mithäftling. Man drückt den fünf Männern die Daumen, hält die Luft an, wenn es wieder gilt, die strengen Kontrollen zu überstehen. Man solidarisiert sich mit den Fünfen, die allesamt hohe Strafen fürchten, also nicht gerade für Nichtigkeiten einsitzen.

Dabei lohnt es auch hier, mal auf die realen Vorbilder zu schauen. Vor allem José Giovanni (der später zum Beispiel auch das Drehbuch zu Jean-Pierre Melvilles Der zweite Atem schrieb) hat nicht gerade eine sympathische Vergangenheit: Er kollaborierte schon im Teenager-Alter mit den Nazis, arbeite in den letzten Kriegsjahren als Polizist im Dienst des Vichy-Regimes und raubte und erpresste in dieser Zeit nachweislich jüdische Menschen. Nach der Befreiung von Paris gründete er mit seinem Bruder Paul sowie einem ehemaligen Gestapo-Mann und einem Ex-Mitglied der Milice française eine Bande, die unter anderem den jüdischen Weinhändler Haïm Cohen ausraubte, tötete und in die Seine warf. Für seine Taten war er fast zwölf Jahre in Arbeitshaft. Die Karriere als Schriftsteller, Drehbuchautor und Regisseur begann nach seiner Freilassung Mitter der 50er, aber es sollte noch bis 1993 dauern, bis die Welt von seiner Vergangenheit als Kollaborateur erfuhr. José Giovanni selbst, der mit bürgerlichem Namen Joseph Damiani hieß, hatte seine kriminellen Aktivitäten zwar nicht verschwiegen, aber immer erzählt, er sei Teil des französischen Widerstands, also der Résistance, gewesen. Bis am 14. Oktober 1993 zwei Schweizer Tageszeitung – La Tribune de Genève und 24 Heures – zeitgleich seine Vergangenheit als Kollaborateur enthüllten. Geschadet hat es seiner Karriere jedoch nur wenig.

Philippe Leroy als Manu bei der Arbeit. Der Charakter ist dem Autor José Giovanni nachempfunden. © Arthaus / Studiocanal

Philippe Leroy als Manu bei der Arbeit. Der Charakter ist dem Autor José Giovanni nachempfunden. © Arthaus / Studiocanal

Späte Anerkennung als filmisches Meisterwerk

Jacques Beckers filmischer Abschiedsgruß war im Erscheinungsjahr 1960 in Cannes zwar für eine Goldene Palme nominiert, hatte jedoch gegen Federico Fellinis La Dolce Vita keine Chance. An der Kinokasse floppte Das Loch, was vielleicht auch daran lag, dass eben Fellinis Üppigkeit und das verspielte, selbstreflexive Kino der Nouvelle Vague gerade die Trends setzten und Beckers aufs Wesentliche reduzierte Regie hier das krasse Kontrastprogramm bildete.

In den Folgejahren erkannten jedoch immer mehr Cineast:innen die Klasse dieses außergewöhnlichen Gefängnisfilms. Als im Jahr 2017 die restaurierte Edition bei uns veröffentlicht wurde, wurde noch einmal deutlich, dass Das Loch über die Jahre viele Fans gesammelt hat. Auch Rotten Tomatoes ist sich mit seinen 94% als Kritiker:innen- und 96% als Publikumswertung recht sicher.

Einen Nachteil hat es aber, wenn man sich Das Loch noch einmal anschaut (was man gerade übrigens auf unseren ARTHAUS+-Kanälen tun kann): Jeder andere Gefängnisfilm kommt einem im direkten Vergleich plötzlich klischee-beladen, überfrachtet und unnötig hektisch vor.

Daniel Koch

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