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Inland Empire: Eine komisch brutale Meditation für die Hinterbacken

Unser Autor kämpft damit, David Lynchs Inland Empire adäquat zu beschreiben. Er merkt aber schnell: der namhaften Konkurrenz geht es auch nicht besser. Deshalb kommt hier eine leicht irre Kritik-Text-Collage, die Lynch vielleicht gefallen hätte. Die restaurierte Fassung des Films gibt es ab sofort auch im Heimkino.

27. Juni 2023

Sonntag, heißester Tag im Juli. Auch um 22 Uhr noch. Ich liege im aufgeheizten Wohnzimmer auf dem klebrigen Sofa und starre auf den Fernseher. Der starrt zurück. Oder vielmehr: Das Gesicht, das so aussieht, als hätte man einen Blobfisch auf der wutverzerrten Visage des Joaquin-Phoenix-Incel-Jokers zerschmettert. Schnitt. Wir sind wieder im Wohnzimmer der Menschenhasen und/oder Hasenmenschen. Sie drehen die Köpfe zur Tür. Die öffnet sich und ich sehe … Laura Dern. Laura Dern. Laura Dern. Laura Dern. Wie ich überhaupt in den nächsten Tagen vermutlich überall Laura Dern sehen werde. Was hier gerade passiert ist? Ungefähr zwei Minuten Inland Empire, relativ zum Ende raus, kurz vor dem Mord, der keiner ist oder doch einer.

Die Süddeutsche Zeitung schreibt: "Man zögert erst mal, jemanden in diesen Film zu schicken. Er ist monströs, pathetisch, überladen, komisch, brutal. Er kennt kein Mitleid mit den Zuschauern, kein Entgegenkommen. Aber wenn man mal die Momente der Verwirrung, der Verstörung, der Verzweiflung hinter sich hat, möchte man von seinen fast 180 Minuten auf keine einzige verzichten."

Wie soll man denn einen Text über diese 180 Minuten Filmerfahrung schreiben? Die vielleicht ein Film über einen Film, der mal ein Film werden sollte, über ein Märchen in einer Geschichte in diesem Film, der eine mögliche Zukunft des Filmes, der keiner werden konnte, sein könnte? Klappt irgendwie nicht. Zumindest nicht so, dass ich ruhigen Gewissens gen Fernseher brüllen könnte: "Nailed it!" Da hilft auch das Kulturwissenschafts-Studium mit all den Film-und-Medien-Seminare nicht weiter.

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Der britische Guardian meint: "Der Albtraum geht weiter und weiter – tatsächlich drei Stunden lang. […] Ich habe oft mit zusammengekniffenen Hinterbacken gewimmert vor Furcht, was als nächstes passiert […] ein gigantisches anarchisches Spektakel einzig und allein der Desorientierung."

Irgendwie beruhigend, dass auch all die Kolleg:innen strugglen, die ich hier versammelt habe. Einige klingen dabei auf den ersten Blick furchteinflößend intelligent, manche von ihnen beim intensiveren Reinlesen aber oft a bisserl blasiert und/oder klugscheißernd. Spannender finde ich, wenn sich mal ein Kritiker eingesteht, dass er vor Furcht wimmert und dabei die Hinterbacken zusammenkneift. Da war ich schon nach den ersten zwei Minuten (abzüglich des Hinterbackenzusammenkneifens, das passiert bei mir irgendwie nicht, wenn ich wimmere), wenn man den Film im Film im Film im vermeintlichen Original sieht. Verwaschene schwarzweiße Noir-Bilder sind das und -Dialoge, so leise, das nur die Untertitel helfen. Besonders verstörend: Die Gesichter des Paares, das wir da sehen, sind verwaschen, als wäre da jemand mit einem ätzenden Schwamm drübergegangen.

edp Film sagt: "Es ist eine Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte in einer Geschichte, die mehr oder weniger die Geschichte ist, die vor der ersten Geschichte lag. […] Aber damit ist nicht mehr gesagt als die Behauptung, eine Chopin-Etüde folge einer musikalischen Logik, um genau dorthin zu gelangen, wo auch die musikalische Logik nicht mehr zählt. […] Laura Dern ist dabei die perfekte ‚Lynchian woman‘; es ist […] die Bereitschaft, das Subjekt und das Objekt des Märchens der Exploration zugleich zu sein. Komplizin in einer Forschungsreise und Opfer gleichermaßen. Lynch bedankt sich mit einer Zärtlichkeit, die er bislang noch keinem seiner Frauencharaktere gegenüber gezeigt hat."

Vielleicht sollte ich an dieser Stelle doch mal kurz die grobe Handlung und die Randdaten wiedergeben. Inland Empire von David Lynch feierte Weltpremiere bei den Filmfestspielen von Venedig im Jahr 2006. Laura Dern (die seit der HBO-Serie Big Little Lies sicher noch mehr geliebt und gefürchtet wird) spielt die Schauspielerin Nikki Grace, die mit ihrem Kollegen Devon Berk ein toxisches Liebespaar in dem Film "On High in Blue Tomorrows" spielen soll. Berk wird gespielt von Justin Theroux, den ich seit seiner Hauptrolle in der Serie The Leftovers liebe. Der Regisseur Kingsley Stewart (Jeremy Irons) eröffnet seinen beiden Stars schnell, dass sein Film quasi ein Remake sei. "On High in Blue Tomorrows" sollte schon Jahre vor Jahren erscheinen, der Dreh hatte begonnen – aber dann starben die beiden Hauptdarsteller. Sie wurden ermordet. So weit so schlüssig. Wie man von da aus zum eingangs erwähnten Blobfisch-Clowns-Gruselgesicht, zu einem Hasenmenschenwohnzimmer, zu singenden Prostituierten, zu Mörderinnen mit Schraubenziehern und vor allem immer wieder zu hypnotischen und/oder entnervenden Fischaugenkamera-Blicke auf all diese spannenden Schauspieler*innen-Gesichter kommt – das muss man schon für sich selbst rausfinden und durchleben.

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Der Filmdienst meint: "In seiner Erzählweise und in den schmutzig-grauen, grobkörnigen Bildern liegt Inland Empire nahe am Experimentalfilm. Stilistisch lässt sich das Ergebnis wohl auch aus der Tatsache erklären, dass hier ein Regisseur zum ersten Mal mit DV-Kamera gearbeitet hat und mit dieser Technik zum Teil einfach nicht zurechtkam. Die Bilder sind hässlich, oft grobkörnig und verwaschen; ihnen fehlt ein großer Teil des visuellen Zaubers und der bildlichen Traumqualität, der Lynchs Kino immer essenziell war. Auch die offenbar vorhandene Überfülle des Materials hat Lynch nicht ganz unter Kontrolle bekommen – der Film ist zu lang, ihm fehlen Konzentration und Disziplin. Nach dieser Feststellung ist allerdings viel interessanter, warum der Film dessen ungeachtet geglückt ist: Mit seinem barocken, schwerblütigen, kathartischen, albtraumhaften Trip ins Innere des Kinos, ins Reich seiner Symbole und seiner Psychoanalyse, bewegt sich Lynch weg von seinen letzten, eher klassisch erzählten Filmen, zurück zu seinen Anfängen und zu den frühen 1990er-Jahren, als er mit Wild at Heart (fd 28 529) und der TV-Serie Twin Peaks auf den Spuren der Gebrüder Grimm wandelte – moderne Mythologie und surreales Endzeitszenario, in dem alles aus den Fugen ist."

Die Kritik aus dem Filmdienst muss jetzt leider noch mal neu geschrieben werden. Denn nach der von Lynch höchstselbst überwachten Restauration sind die Bilder nicht mehr "hässlich, oft grobkörnig und verwaschen" wie der Kollege motzte. Im Gegenteil: Sie erstrahlen in schönster Unruhe! Aber wir sollten noch einen Warnhinweis loswerden: Einige diese Bilder verschrauben sich so seltsam im Hirn, dass man sie auch Tage später noch manchmal vor dem inneren Auge aufblitzen sieht. So ging es mir zumindest: Nachdem ich schon in der Pandemie den Fehler gemacht hatte, im Lockdown in zwei Wochen die Lynch-Blu-ray-Box durchzugucken und diese Erfahrung Monate nicht abschütteln konnte, habe ich auch beim Schreiben dieser Zeile noch das Gefühl, Laura Dern schaue mir gleich über die Schulter, um mich vor ihrem Ehemann zu warnen. Oh, da ist sie auch schon.

Die Zeit bemerkt: "Die siebte und allerhöchste Bewusstseinsstufe innerhalb der ‚Transzendentalen Meditation‘ ist das sogenannte Einheits-Bewusstsein. Wer zu dieser Stufe vorstößt, erlebt alle Formen des Lebens als Erscheinungen desselben kosmischen Seins; die Grenzen zwischen äußerer und innerer Realität lösen sich auf; das eigene Selbst spiegelt sich in den Dingen der Welt. […] Wenn alles miteinander verbunden ist und alle Welt in einen Kopf passt, dann darf der Regisseur sich mit seinem Material auch große Sprünge leisten, gewaltige Bögen schlagen, Fragmente auf diverse Umlaufbahnen schicken und still darauf vertrauen, dass der innere, der universelle Zusammenhalt doch irgendwie bestehen bleibt."

Inland Empire gibt es ab dem 29. Juni in der restaurierten Version als VoD und in allen gängigen Formaten.

Daniel Koch

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