Passiert ja auch nicht alle Tage, dass wir hier im Hause ARTHAUS einen Action-Film anpreisen können. Wobei Tiger & Dragon vom taiwanischen Regisseur Ang Lee aus dem Jahr 2000 natürlich kaum zu vergleichen ist mit dem, was sonst so unter „Action“ firmiert. Deshalb passt vielleicht doch besser, wenn man ihn einen Martial Arts-Film nennt, oder noch konkreter: ihn dem Wuxia-Genre zurechnet. Der Begriff setzt sich aus zwei chinesischen Zeichen zusammen. Wǔ kann mit "Kampfkunst", "Kriegskunst" oder "Militär" übersetzt werden. Xiá beschreibt bestimmte Personen, die je nach Kontext in die Kategorien "Held", "Abenteurer", "Söldner", "Krieger" oder "(fahrender) Ritter" fallen können. Tatsächlich finden sich in dieser Definition die Hauptzutaten von Tiger & Dragon – die Ang Lee aber mit einem eigenen Twist anrührt. Genre-prägend sind dabei vor allem die kunstvollen Kampfszenen, bei denen die Schwerkraft bisweilen auf wundersame Weise ihren Dienst quittiert. Die Kämpfer und Kämpferinnen tanzen mit Ninja-Masken über Baumspitzen, laufen senkrecht zum Boden leichtfüßig an hohen Mauern entlang, lassen die Klingen flirren – und kämpfen oft erstaunlich unblutig bis zum Tode. Hier bemerkt man schnell einen erfrischenden Gegenpol zum gängigen US-Action-Kino: die Kämpfe wirken eher wie ein Tanz auf Leben und Tod – und obwohl explizite Brutalität nur selten zelebriert wird, weiß man trotzdem, wann es brenzlig wird. Tiger & Dragon spielt übrigens zur Zeit der Quing-Dynastie – im Jahr 1779 – und ist eine Verfilmung des vierten Teils des fünfteiligen Romans "Kranich und Eisen" von Autor Wang Dulu.
Dass man diesen Film ganz automatisch mit dem heutigen Kino vergleicht, liegt zu einem großen Teil an Michelle Yeoh, die hier die Schwertmeisterin Yu Xiu Lian spielt. Eine freie, selbstbewusste, weitgereiste, ehrenhafte Kämpferin – die mit diesem Leben für viele Chinesen der Zeit schon eine gelebte Provokation ist. Yeoh ist dieser Tage begehrter denn je, seit sie als unfreiwillige, mehrdimensionale Alltags-Superheldin in Everything Everywhere All At Once brillierte. Dort trifft die Wuxia-Kampfkunst auf den überdrehten Humor des Regie-Duos The Daniels – was zu einigen Kampfszenen führt, die vielen Menschen die Schamesröte ins Gesicht treibt. In Tiger & Dragon bleibt der Ton meistens ein ernster – aber Ang Lee hat große Freude daran, sich eher auf die Kämpferinnen des Films zu konzentrieren. Neben Yeohs Yu Xiu Lian ist das vor allem Zhang Ziyi in der Rolle der Yu Jiao Long bzw. Jen, die hier ein doppeltes Spiel spielen muss: Sie ist die Tochter des Governeurs Yu, die bald verheiratet werden soll, und zugleich eine junge, perfekt geschulte, impulsive Kämpferin. Ang Lee gibt den beiden viel Raum und zahlreiche Gelegenheiten aufdringlichen, hochmütigen Männern den Kampf anzusagen. Aber auch hier muss man feststellen: Wie im Wuxia-Genre üblich, wird hier selten zum Selbstzweck, oder zum reinen Entertainment, oder gar aus sadistischen Gründen gekämpft. Einmal sagt eine Meisterin zu ihrer Gegnerin: "Dein Meister hielt nicht viel von Frauen. Er wollte mit mir schlafen, aber mir nicht die Kampfkunst beibringen. Deshalb hat er es verdient, durch die Hand einer Frau zu sterben." Der einzige Mann, der hier im Großen und Ganzen als ehrenhaft durchgeht, ist der von Chow Yun-fat gespielte Schwertmeister Li Mu Bai.
Ang Lee machte mit Tiger & Dragon das Kampfkino Chinas international salonfähig. Wobei wir noch einmal unterstreichen sollten, dass die Schwertduelle nicht den kompletten Film einnehmen. "Blickpunkt: Film" schrieb damals sehr treffend: "Ein spektakulärer Actionfilm von Ang Lee, realisiert in der Tradition klassischer Schwertkämpferfilme. Halb philosophischer Diskurs im Stil von King Hu, halb Stuntextravaganz mit Anleihen an alte Jackie-Chan-Filme, begeistern hier nicht nur die einzigartigen Kampfsequenzen, sondern auch die bewegende Story, die Chow Yun-fat und Michelle Yeoh zu Höchstleistungen antreibt." Oder, wie der "Stern" es etwas weniger hochtrabend formulierte: „Das reißt den Zuschauer mit, wie ihn schon lange kein Film mehr mitgerissen hat. Regisseur Ang Lee hat zwei Liebesgeschichten und eine Mördergeschichte verwoben und zeigt: Der Mensch kann fliegen, doch lieben kann er nicht.“
Tiger & Dragon sammelte 2001 insgesamt vier Oscars ein – wurde "Bester fremdsprachiger Film", hatte die "Beste Filmmusik", die "Beste Kamera" und die "Beste Ausstattung". Außerdem war er als erster nicht englischsprachiger Film auch für die begehrteste Kategorie als "Bester Film" nominiert – verlor dort aber gegen den ungleich, nun ja, grobschlächtigeren Kampffilm Gladiator.
Zhang Ziyi in der Rolle der Yu Jiao Long bzw. Jen, die hier ein doppeltes Spiel spielen muss: Sie ist die Tochter des Governeurs Yu, die bald verheiratet werden soll, und zugleich eine junge, perfekt geschulte, impulsive Kämpferin. © Arthaus / Studiocanal
Auf der großen Leinwand und frisch restauriert wird Tiger & Dragon im Rahmen von „Best of Cinema“ am 2. August noch einmal viel Freude bereiten – und mit seiner perfekt choreografierten und exerzierten Action eine tolle Abwechslung zu den etwas ermüdenden CGI-Schlachten sein, die man aus den gängigen Marvel-Blockbustern kennt. Alle Information zu den teilnehmenden Kinos finden Sie hier.