Wenn Geschichten für Kinder ein hohes Alter erreichen – in dem Sinne, dass sie über Generationen hinaus erzählt und weitererzählt werden –, dann müssen sie ihr Zielpublikum erreichen. Die Herzen und Köpfe der Kinder – darauf zielen die phantastischen Geschichten von Otfried Preußler. Der Autor selbst blickte zeitlebens auf eine schwierige Zeit des Erwachsenwerdens, und auch das mag ihn zu einer Beschäftigung mit den Stoffen getrieben haben, die als Lektüre und später auch in laufenden Bildern aus den Kindern und Teenagern der Nachkriegszeit in Deutschland die schönsten Gedanken und Emotionen herauszukitzeln vermochten. Ideen und Vorstellungen, die ihre Leben anders als die von so vielen aus Preußlers eigener Generation in die richtigen Bahnen lenken sollten. Preußler war als Autor von heutigen Klassikern der Kinder- und Jugendliteratur wie Die kleine Hexe, Das kleine Gespenst oder Der Räuber Hotzenplotz – deren Verfilmungen von Michael Schaerer, Alain Gsponer und Michael Krummenacher wir zur Feier des Tages wärmstens empfehlen – ein einfallsreicher Humanist, der die Moral hinter den magischen Elementen nie zu kurz kommen ließ. Er schwärmte von Kindesbeinen an für das Buch der böhmischen Großmutter, aus dem sie ihm Märchenhaftes rezitierte, ohne dass dieses Buch als physisches Objekt je existiert hätte. Er verarbeitete jedoch mit Krabat auch die düsteren Jahre seines Lebens, von denen er einige in Kriegsgefangenschaft verbrachte, und zeigte sich ganz offen als enthusiastischer Nacherzähler, etwa mit seinen Übertragungen (nicht reinen Übersetzungen) von Josef Ladas "Kater Mikesch".
Karoline Herfurth als Kleine Hexe mit dem Raben Abraxas © Studiocanal GmbH / Claussen+Putz Film / Walter Wehner
Es waren nun mal die bemerkenswerten Außenseiter, die den 2013 verstorbenen Preußler reizten, wie jener Kater, der sprechen kann, jenes Gespenst, das vom Leben bei Tage träumt, jene erst 127 Jahre junge Hexe, die auf der Walpurgisnacht tanzen möchte oder jener berüchtigten Räuber Hotzenplotz, der die Kaffeemühlen in den Herzen und Köpfen von Millionen Kindern zum Mahlen brachte. Das alles womöglich nicht nur, weil der auch als Zeichner begabte Preußler sich selbst als ein besonderes Individuum seiner Spezies wahrnahm, sondern weil er in jedem einzelnen und jeder einzelnen seiner Leser*innen ein wertvolles Einzelstück zu imaginieren im Stande war. Und damit schließlich alle erreichte. Ein Erfolg, der wie viele seiner Erfindungen schon im Übernatürlichen angesiedelt scheint und doch so starke reale Wirkung zeitigte. Am heutigen 20. Oktober 2023 wäre Otfried Preußler 100 Jahre alt geworden. Seine Geschichten werden ihn noch lange überdauern – durch uns, die wir sie verinnerlicht haben.
WF