Als das Jugendbuch "Das kostbarste aller Güter" von Jean-Claude Grumbert zuerst veröffentlicht wurde, fragten sich viele zurecht: Darf der das? Ein Märchen über den Holocaust erzählen? Der französische Regisseur Michel Hazanavicius, dessen sehr gelungene Animationsverfilmung der Geschichte nun im Heimkino zu sehen ist, sagte uns im Interview (das Sie hier lesen können) als Antwort auf genaue diese Frage. "Ja. Er darf das. Es ist seine Geschichte. Er hat immer über dieses Thema geschrieben. Sein Vater wurde deportiert und in Auschwitz getötet. Wenn es eine Person gibt, die ich diese Art von Geschichten zutraue, dann ihm." Grumberg ist außer dem seit Jahren sehr eng mit der Familie Hazanavicius verbunden. "Er ist der beste Freund meiner Eltern, seit sie 16 waren. Ich kannte ihn also schon immer", erzählt Regisseur Michel Hazanavicius.
Das Wort "Märchen" sorgt im Kontext dieser Geschichte immer wieder für kurze Verwirrung – vielleicht weil wir es – trotz eines Aufwachsens mit den brutalen Grimm-Märchen – mit etwas eher Positivem verbinden. Aber tatsächlich beginnen Film und Buch in märchenhaftem Ton – mit dem Satz: "Es lebten einmal in einem großen Wald eine arme Holzfällersfrau und ein armer Holzfäller." Die Frau wünscht sich sehnlichst ein Kind, kann aber keine bekommen. Jeden Tag pilgert sie durch den Schnee und betet an einem täglich passierenden Zug, der lautstark durch den Wald schneidet, für ein Wunder. Genau das geschieht – aus ihrer Sicht: Eines Tages wird ein Säugling aus dem Zug geworfen. Es ist die Verzweiflungstat eines französischen Vaters, der in eben diesem Zug nach Auschwitz deportiert wird.
Die Frau will das kleine Mädchen aufziehen – aber ihr Mann vermutet, es sei ein Kind der "Teuflischen". So haben sie es gelernt – dass in diesen Zügen der Feind lauert. Nach und nach weicht der märchenhafte Ton jedoch immer mehr in die harte Realität und wird auch in der Benennung der Dinge konkreter. Im letzten Drittel des Buchs liest man zum Beispiel Sätze wie diesen: "Der Güterzug, der von der Bürokratie des Todes die Bezeichnung Konvoi 49 erhalten hat und am 2. März 1943 am Bahnhof Bobigny bei Drancy an der Seine abgefahren ist, erreicht am Morgen des 5. März das Herz der Hölle, die Endstation."
Michel Hazanavicius erzählt nun auf poetische Weise, mit sehr eindringlichen Bildern, wie die Frau des Holzfällers das Kind aufzieht, wie der Holzfäller einsieht, dass die "Teuflischen" eben doch gute Menschen sind und wie den beiden immer wieder mal unter größten Gefahren geholfen wird. Die universelle Geschichte, oder die Moral dieses "Märchens" formuliert der Regisseur so: "Es ein sehr friedlicher Film ist. Seine Botschaft ist nicht, dass man den Mördern die Schuld vorhalten muss, sondern es geht darum zu sagen: Selbst, wenn die Welt um dich herum zusammenbricht, hast du immer die Wahl, ein guter Mensch zu sein. Es tut gut, sich das heute noch einmal bewusst zu machen, wo die Leute sehr aggressiv reden und alles sehr negativ gesehen wird. Ich denke, die beste Antwort auf diese Aggression ist nicht weitere Aggression, sondern einen Film wie diesen zu bringen, der im Kern friedlich ist und eine humanistische Botschaft hat. Das kann nicht die einzige Antwort sein und es ist keine Lösung, aber ich fühle mich wohl mit dieser Botschaft."
Sieht so ein "teuflisches" Kind aus? © Arthaus / Studiocanal
Das kostbarste aller Güter wirkt vor allem auf visueller Ebene: Hazanavicius hat alle Figuren, auch die Nebencharaktere selbst gezeichnet. "Das war eine Menge Arbeit", gibt er zu, "aber ich zeichne eben gerne. Ich habe allerdings einen sehr klassischen Zeichenstil und arbeite mit Bleistift und Papier und nicht am Rechner auf einem Graphikpad. Ich musste also lange mit meinem Team verhandeln, bis ich den richtigen Stil gefunden hatte, der auch in der Animation funktioniert."
Für die wunderschönen Landschaften suchten Hazanavicius und sein Team eher in der Kunst als in der Filmgeschichte nach Vorbildern: "Als ich das Buch gelesen hatte, kam es mir vor, als sei es schon ein Klassiker. Als hätte die Geschichte schon existiert, bevor der Autor sie geschrieben hat. Ich wollte versuchen, dieses Gefühl auf den Film zu übertragen, als ob wir einen Film exhumiert hätten, der schon immer existiert hat. Wenn man an klassische Animationsfilme denkt, kommen einem schnell die ersten Disney-Filme in den Sinn. Schneewittchen oder Bambi oder so etwas. Das war mir zu allgemein und zu kindlich für diese Geschichte."
Also seien er und sein Team noch weiter zurückgegangen: "Zu den klassischen französischen Gemälden aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert zum Beispiel. Es gab auch viele russische Maler, die ins Land geschickt wurden, um ein topografisches Zeugnis der russischen Landschaften zu erstellen."
Die Figuren zeichnete der Regisseur selbst, für die Landschaften suchte man Inspirationen in der Kunst. © Arthaus / Studiocanal
Das wiederum sei jedoch schwer zu animieren gewesen. Die rettende Idee kam Hazanavicius dann nach einem Besuch einer Ausstellung des japanischen Malers Utagawa Hiroshige. "Danach dachte ich, dass es funktionieren könnte, wenn man diese klassischen Gemälde mit diesem Stempel aus einfachen Farben und schwarzen Linien mischt. Das ist genau das, was die Japaner im späten 19. Jahrhundert taten, und vor allem ein Maler und Illustrator namens Henri Rivière in Frankreich. Das brachte uns zu den Holzdrucken und seiner speziellen Illustration für Bücher. Und das war wirklich kohärent mit der Erzählung eines Märchens."
Für das weitere Wirken seines Films wünschst sich Hazanavicius, dass er jungen Menschen das Thema Holocaust noch mal auf eine andere Weise nahebringt. Das sei auch ein Grund gewesen, warum er sich an die Verfilmung des Buches herangetraut hätte. Mir fiel auf, dass ich die Geschichte der Shoa und die Auswirkungen auf unsere Familie nie wirklich meinen Kindern vermittelt hatte", erzählte er uns. "Meine Frau sagte irgendwann zu mir: ‚Sie wissen gar nicht soviel darüber. Und wenn das schon bei Kindern so ist, deren Vorfahren davon betroffen war, was ist dann mit anderen Kindern? Du musst diesen Film machen.‘ Für mich kam abschließend noch hinzu, dass gerade die Ära der Überlebenden und Zeitzeugen zu Ende geht. Die Geschichte geht in die Ära der Fiktion über und deshalb muss man andere, zugängliche Wege finden, um sie zu erzählen und dadurch am Leben zu halten." Das scheint ihm mit Das kostbarste aller Güter gelungen zu sein.
DK