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Der vermessene Mensch: "Bin ich bereit für die Geschichte?"

Eine Begegnung mit Hauptdarstellerin Girley Jazama und Regisseur Lars Kraume und ein Gespräch über das viel diskutierte Drama, das von deutschen Kolonialverbrechen handelt, und das man jetzt zuhause sehen kann.

24. August 2023

Was war wohl der erste Gedanke, den die namibische Schauspielerin Girley Charlene Jazama hatte, als man ihr die Rolle der Kezia Kambazembi in Lars Kraumes Drama Der vermessene Mensch anbot? Es war schlicht die Frage, verrät Girley Jazama beim Gespräch mit der ARTHAUS-Redaktion in Köln, ob sie bereit dafür sei, diese Figur zu spielen und sich in die Geschichte des Films hineinzuversetzen.

Die Geschichte berührt Girley Jazama persönlich. Ihre Ur-Ur-Großmutter gehörte zu jenen Herero beziehungsweise Ovaherero, die während der kolonialen Herrschaft der Deutschen in Namibia Opfer täglicher Unterdrückung wurden. Anfang des 20. Jahrhunderts kam es nach Aufständen gegen die brutale Gewalt zum Genozid. Ein historisches Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das in Deutschland eher durch Ausstellungsstücke in ethnologischen Museen als durch Aufklärung im Schulunterricht oder im öffentlichen Diskurs Spuren hinterlässt.

Regisseur mit Filmteam in den Kulissen der "Deutschen Kolonial-Ausstellung" © Studiocanal GmbH / Anatol Kotte

Regisseur mit Filmteam in den Kulissen der "Deutschen Kolonial-Ausstellung" © Studiocanal GmbH / Anatol Kotte

Zwar ist die koloniale Vergangenheit und postkoloniale Gegenwart Deutschlands etwas mehr in den Vordergrund gerückt, mittels Debatten um die Rückgabe von Beutekunst oder die Rückführung der sterblichen Überreste von Menschen, die einst zum Zwecke der Untersuchung und Zurschaustellung im Sinne der "Völkerkunde" entführt wurden – und über die überfällige "Diversifizierung" des Personals in solchen Institutionen wie dem Humboldt-Forum. Dennoch wirkt Der vermessene Mensch gerade deshalb so erschütternd, weil die geschichtlichen Tatsachen um den Völkermord im damaligen "Deutsch-Südwestafrika", der zwischen 1904 und 1908 geschätzten 40.000 bis 60.000 Herero und 10.000 Nama das Leben kostete, öffentlich kaum präsent sind.

Das menschenverachtende Regime der Deutschen wird in Kraumes Spielfilm vom Ethnologen Alexander Hoffmann personifiziert. Für Kraume, der sich bereits zuvor filmisch mit unterbelichteten Kapiteln deutscher Geschichte auseinandergesetzt hat, und der sich während eines Aufenthalts in Namibia der kolonialen Verbrechen bewusst wurde, die dort jedenfalls nicht zu übersehende Narben hinterlassen haben, war die Erzählung aus der Täterperspektive alternativlos.

Die mögliche Wahl eines namibischen Helden wäre für ihn ein Fall der kulturellen Aneignung gewesen, so Kraume in Köln. Der vermessene Mensch maßt sich wenn überhaupt ein Urteil über die Mörder an, nicht über die Opfer. Der von Leonard Scheicher gespielte Hoffman steht im Mittelpunkt der Filmstory – ein Antiheld, der sich im Lauf der Handlung noch die letzten Sympathien beim Publikum verscherzt. Natürlich ist er durch die rassistischen Vorurteile seiner Zeit geprägt, doch setzt bei ihm ein Wandel ein, der keine Wende zum Besseren bringt. Stattdessen kehrt die Zeit in "Deutsch-Südwestafrika", wo General von Trotha und seine Truppen bereits Herero zum Verdursten in die Wüste treiben, das Schlechteste in Hoffmann hervor. Aus dem kritischen Geist und Abenteurer mit romantischen Ambitionen wird ein Leichenfledderer, der das Ausgraben und Vermessen von Schädeln obsessiv verfolgt.

Alexander Hoffmann und Kezia Kambazembi im Film © Studiocanal GmbH / Julia Terjung

Alexander Hoffmann und Kezia Kambazembi im Film © Studiocanal GmbH / Julia Terjung

Girley Jazamas Figur Kezia Kambazembi reist zu Beginn des Films in einer Herero-Delegation nach Berlin, um mit Kaiser Wilhelm über die Situation in ihrer Heimat zu sprechen. Doch in Deutschland werden die Herero wie "Wilde" behandelt, man begafft sie und lässt jeglichen Respekt vermissen. Nach ihrer Abreise jagt Hoffmann, der sich offenbar in Kezia verliebt hat, einem Phantom hinterher. Schließlich muss er feststellen, dass die Kezia, die er in Namibia sucht, nicht mehr existiert. Sie ist, wie viele andere, zu einem Geist geworden. Hoffmann hat sie längst auf dem Gewissen.

Bei einer Vorführung von Der vermessene Mensch in Namibia, sagt einer der anwesenden Herero in der anschließenden Diskussion sichtlich bewegt, er begrüße, dass die Geister seiner Vorfahren, die auf Grund der Schändung nie zu Ruhe gekommen seien, durch einen Film wie diesen die Gelegenheit hätten, von der schrecklichen Vergangenheit Zeugnis abzulegen. Die Deutschen seien ehrlich, in dem sie von ihren eigenen Verbrechen berichteten. Girley Jazama fügt in Köln hinzu, dass die Geschichtsschreibung der Herero zuvorderst auf mündlicher Überlieferung beruhe. Viele Herero seien deshalb dankbar für die Bilder, die jetzt die Wahrheit zeigten. Die Reaktionen sowohl in Deutschland als auch in Namibia seien durchaus gemischt, erklären Girley Jazama und Lars Kraume. Aber prinzipiell zeige sich das Publikum sehr emotional.

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Girley Jazama selbst wühlt es auf, von ihrer Ur-Ur-Großmutter zu erzählen, die von einem deutschen Kolonialisten vergewaltigt wurde. An dieser Stelle des Gesprächs kann sie die Tränen nicht zurückhalten.

Eine weitere Betroffene erklärt nach einem Screening im Rahmen der Filmtour durch Namibia, sie leide zeitlebens unter dem Stigma ihrer helleren Hautfarbe. Das Generationen übergreifende Trauma der Herero machte schon das Reenactment historischer Begebenheiten am Filmset problematisch, auch die Rezeption ist weder für das namibische noch das deutsche Publikum einfach. Die Logik von wirtschaftlicher Ausbeutung und rassistischer Ideologie, die im Handeln der deutschen Täter Hand in Hand gehen, ist so schwer zu ertragen wie die Opferrolle der Herero, die sie noch im Film einnehmen, damit das Gezeigte mit der historischen Wirklichkeit in Einklang bleibt. Auch wenn Teile der Handlung fiktionalisiert sind und sich auch an Uwe Timms Roman "Morenga" orientieren.

Ovaherero vor einem Screening in Otjiehenda © Sydelle Willow Smith

Ovaherero vor einem Screening in Otjiehenda © Sydelle Willow Smith

Der Dialog hinter den Kulissen war wichtig, betont Girley Jazama. Beim Dreh stand den Beteiligten stets eine psychologische Betreuung zur Verfügung. Nun wird Der vermessene Mensch an Schulen gezeigt, in zahlreichen Vorführungen mit anschließenden Q&As stellen ihn Girley Jazama und Lars Kraume zur Diskussion.

Gerade die schmerzerfüllten Reaktionen in Namibia und auch die emotionale Betroffenheit der grandiosen Hauptdarstellerin selbst lassen den Film als einen wichtigen ersten Schritt zu einer wahrhaftigen Aufarbeitung des Massenmordes an den Herero und Nama erscheinen. Es werden noch viele Schritte folgen müssen, um der Geschichte gerecht zu werden. Den Mut, diesen schwierigen Weg aus ihren jeweiligen Richtungen kommend eingeschlagen zu haben, muss man Girley Jazama und Lars Kraume sowie allen Beteiligten der Produktion hoch anrechnen. Letztlich liegt die Frage "Bin ich bereit für die Geschichte?" auch bei den Zuschauer*innen. Nach Aufsehen erregenden Wochen in den Kinos, wird Der vermessene Mensch nun hoffentlich auch als Digital- und Home Entertainment-Release weiter viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

WF

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