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Irreversible: Der Mann zerstört alles

Gaspar Noés Irreversible gilt als "Skandalfilm" schlechthin und ist alles andere als leichte Kost. Jetzt gibt es ihn erstmalig im "Straight Cut", einer vom Regisseur überarbeiteten Schnittfassung zu sehen. Und es stellt sich eventuell die Frage, ob man diesen harten Film (noch einmal) anschauen sollte. Unser Redakteur findet: Unbedingt. Gerade weil er eine gnadenlose Inszenierung toxischer Männlichkeit ist – und die Gewalt zeigt, die daraus resultiert, auch wenn es schwer zu ertragen ist.

Filmgeschichten 09. Dezember 2020

Schauen Sie diesen Film! Es ist ein Film, in dem sie für gut zwanzig Minuten Zeuge einer Vergewaltigung werden. Schauen Sie diesen Film! Es ist ein Film, in dem Sie sehen, wie ein Mann einem anderen das Gesicht zu Brei schlägt – mit einem Feuerlöscher. Schauen Sie diesen Film! Es ist ein Film, in dem Sie Männer von ihren schlimmsten Seiten sehen. Schauen Sie diesen Film! Bleiben Sie hart, schauen Sie nicht weg! Bedenken Sie, dass wir in einer Zeit leben, in der ihre pubertierenden Söhne schon Schlimmeres auf ihrem Smartphone gesehen haben dürften und einer der am meisten gestreamten Deutsch-Rapper – Gzuz von der 187 Straßenbande – zum Beispiel das hier rappt: "Bring deine Alte mit, sie wird im Backstage zerfetzt / Ganz normal, danach landet dann das Sextape im Netz." Wenn unsere Gesellschaft das durchgehen lässt, dann müssen Sie auch diesen Film ertragen.

Man verzeihe diesen etwas polemischen Einstieg. Aber irgendwie finde ich das passender, als wieder einmal mit dem abgehangenen, kühlen Ton eines Kritikers auf Irreversible zu schauen. Das hat man schon damals zur Genüge gelesen. Kritiken, die gerne damit beginnen, dass bei der Premiere in Cannes im Jahr 2002 von 2400 Leuten 200 den Saal verlassen haben. Und sechs von ihnen in Ohnmacht fielen. Kritiken, die den Film vor allem als Meditation über Zeit, Schicksal, Filmstrukturen und ja, auch, Gewalt lesen. Gute "Noten" bekam der Film dabei selten – aber jeder dieser Texte sorgte dafür, dass sich Noé wieder einmal das Prädikat "berüchtigt" für einen Film verdient hatte.

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Ich muss zugeben, dass mich einige dieser Kritiken mit dem Blick von heute fast so schockiert haben, wie der Film selbst. Die aus der New York Times zum Beispiel von Elvis Mitchell, die den fragwürdigen Titel trägt: "Rape, Violence … It’s OK to Look Away". Ob das zynisch gemeint sein soll, wird leider im Text nicht so recht klar. Stattdessen gibt es feinstes Victim Blaming, wenn Mr. Mitchell über die Vergewaltigungsszene schreibt. Zum Hintergrund, wer diese harte Filmerfahrung noch vor sich hat: Sie passiert in einem Pariser Fußgängertunnel nach einer Party, die Alex (Monica Belluci) nach einem Streit mit ihrem zugekoksten Freund Marcus (Vincent Cassel) aufgebracht verlässt. Mr. Mitchell erkennt hier einen "grobe Schwachstelle" des Films: "Alex trägt ein Kleid, das eher eine zarte Membran denn ein Kleidungsstück ist, und keine Frau wäre so aufgebracht, dass sie nachts in eine Gasse gehen würde, die so dunkel ist, dass man fast das Kreischen der Fledermäuse zu hören glaubt. Frauen sind sich generell den Gefahren der Straße bewusster als Männer. An diesem Punkt wird Irreversible verantwortungslos; Mr. Noé sagt versehentlich, dass sie den Vergewaltiger quasi zur Tat eingeladen hat." Nein, Mr. Mitchell. Sie sagen das. Und Frauen sind sich nicht bloß den Gefahren der Straße in der Nacht bewusster als Männer. Männer sind öfter eben genau diese Gefahr. Mal abgesehen davon, dass der Fußgängertunnel, den Alex betritt, grell erleuchtet war. Und sogar auch nachts noch genutzt wird – mitten in der Vergewaltigung sieht man sogar einen Mann im Hintergrund, der den Tunnel betritt und verschämt zurückweicht, ohne zu helfen.

Diese Kritik aus der New York Times ist nur ein Beispiel, wie unreflektiert all diese ach so reflektierten, meist von Männern geschriebenen Texte bei den Themen sind, die für mich den Kern dieses Experiments ausmachen: toxische Männlichkeit, in den ersten (oder im Straight Cut den letzten) Minuten auch Homophobie und vor allem Gewalt gegen Frauen. Da wundert es nicht, dass die beste Kritik – auch ein enttäuschter Verriss – von einer Kritikerin stammt. Susan Vahabzadeh von der Süddeutschen Zeitung schreibt über den Mord und die Vergewaltigung trocken und teffend: "Dass diese Szenen so brutal sind, das gehört zu den wenigen Stärken dieses Films – so brutal wie einer realer Mord und eine reale Vergewaltigung sind sie lange nicht."

Pierre, Alex und Marcus auf dem Weg zu der Party © 2019 STUDIOCANAL / LES CINEMAS DE LA ZONE / 120 FILMS / TOUS DROITS R�SERV�S.

Pierre, Alex und Marcus auf dem Weg zu der Party © 2019 STUDIOCANAL / LES CINEMAS DE LA ZONE / 120 FILMS / TOUS DROITS R�SERV�S.

"Die Zeit zerstört alles" – das ist der Kernsatz, den Noé recht pompös als Leitmotiv inszeniert. Man geht ihm in die Falle, wenn man das so hinnimmt. Schuld daran ist natürlich der Kniff, den Film szenisch rückwärts zu erzählen: Vom Mord des vermeintlichen Vergewaltigers in einem Schwulenclub, über die frenetische Suche nach dem Täter, die Vergewaltigung, die Party davor, den Liebesmorgen zwischen Alex und Marcus (die im richtigen Leben übrigens zu der Zeit noch das Traumpaar des französischen Films waren) bis hin zu jener Einstiegsszene als Alex in einem Park auf dem Rasen liegt und ein Buch namens "An Experiment with Time" von J. W. Dunne liest. Der Autor schreibt darin unter anderem über Vorahnungen, die in Träumen zu uns kommen können und entwirft eine Zeit-Theorie, die er "Serialism" nennt. Auch Alex hat an jenem Morgen einen unruhigen Traum über einen roten Tunnel, von dem sie Marcus erzählt. Sie glaubt aber, er könne mit dem baldigen Beginn ihrer verspäteten Periode zu tun haben. Später / früher erfahren wir, dass sie schwanger ist – was auch erklärt, warum sie der verdrogte, wild rum flirtende, aggressive, kindische Marcus auf der Party so aufregt. All das zwingt einem die von Noé intendierte Lesart auf, was natürlich damals genial (wenn auch im Kino nicht neu) war, nun aber – da weithin bekannt – nicht mehr die Kraft in sich trägt, die männliche Gewalt als Leitmotiv in der Rezeption zu überstrahlen. Was Noé wichtiger war, bleibt eh ein wenig Interpretationssache, denn vor allem die Interviews mit dem Cast, den Produzenten und Noé in dieser Edition machen deutlich, dass sich Aussage, Story und Dynamik von Irreversible erst im Verlauf der Arbeit daran herauskristallisiert haben. Auch die überwiegend improvisierten Szenen und Dialoge leben von einer fiebrigen Energie, die eher intuitiv erscheint.

In seinem neuen "Straight Cut", der zumindest in Frankreich noch mal in den Kinos laufen konnte und in dieser Edition der ursprünglichen Fassung beiliegt (oder umgekehrt), wird die Geschichte von diesem Tag im Leben von Alex, den sie nie wieder vergessen wird, chronologisch erzählt. So sieht man kein Stilexperiment, das Erzähl-Konventionen bricht, sondern "nur" eine Geschichte, wie sie die reale Welt jeden Tag schreibt: Das Leben einer Frau wird aufs brutalste, durch die Gewalt eines Mannes zertrümmert. Durch Machotum, angestaute Alltagsaggressionen, einem fehlgeleiteten Beschützerinstinkt und einem großen Maß an Homophobie stirbt dann auch noch ein Mann, der zwar ein brutaler Mensch, aber eben nicht der Vergewaltiger war. Den Mord verübt übrigens am Ende / Anfang auch nicht der ach-so-starke Marcus, sondern der passiv-aggressive, hart stalkende Pierre (Albert Dupontel), der Alex außerdem ständig bevormundet, weil er ja ein Pariser Intellektueller sei und sie bloß ein hübsches Dummerchen.

Zur Zeit des Drehs auch im realen Leben ein Paar: Monica Bellucci als Alex und Vincent Cassel als Marcus © 2019 STUDIOCANAL / LES CINEMAS DE LA ZONE / 120 FILMS / TOUS DROITS RESERVES.

Zur Zeit des Drehs auch im realen Leben ein Paar: Monica Bellucci als Alex und Vincent Cassel als Marcus © 2019 STUDIOCANAL / LES CINEMAS DE LA ZONE / 120 FILMS / TOUS DROITS RESERVES.

Seine Wucht verliert der Film durch die neue Erzählrichtung mitnichten. Im Gegenteil. So wird noch einmal deutlich, dass der sympathischste, empathischste und intelligenteste Charakter eben Alex ist – und alle Männer, die sie umschwirren, egoistische, übergriffige, chauvinistische Arschlöcher sind. Umso mehr, wenn sie sich später als noble Rächer aufspielen. Was sich mal in "großen" Gesten wie der Bluttat im Schwulenclub, mal aber auch in kleinen Szenen zeigt, wenn Marcus zum Beispiel angewidert die Nase rümpft, als er mit Alex im Bett liegt und sie ihre Periode erwähnt. So richtig glücklich und gelöst wirkt Alex dann auch nur in zwei Szenen: Beim alleinigen Lesen im Park und auf der Party, als sie mit zwei Frauen tanzt – zumindest so lange, bis der zugedröhnte Marcus dazu stößt und die beiden gleich mit anbaggert. Vielleicht ist es ein wenig polemisch, aber für mich ist die Botschaft, die hängen bleibt, dann eben eher: Der Mann zerstört alles. Meinetwegen auch die Zeit gleich mit.

In den Interviews zum "Straight Cut" sagt Monica Belluci über Noé: "Es ist unglaublich, wie Gaspard es gelingt, die Härte darzustellen, die wenig schöne Seite des Menschen." Dieses Talent rettet den Film vor seinem berüchtigten Ruf als "Mutprobe" geschaut werden zu müssen, und von dem Schicksal bloß der Film mit DER Szene zu sein. Irreversible hat nicht die Tiefe, die er bisweilen simuliert, aber er zwingt vor allem männliche Zuschauer in ein eskalierendes, toxisches Fieber – das jeden gerne so lange verfolgen darf, bis man seinen Mannschaftskameraden oder Lieblingsrapper (oder vor allem sich selbst) keinen Rape Joke mehr durchgehen lässt.

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Deshalb: Schauen Sie diesen Film! Und wenn sie schon dabei sind, schauen Sie gleich im Anschluss Baise-moi von Virginie Despentes für den wirklich radikalen und feministischen Blick auf das Thema. Folgen Sie Instagram-Accounts wie "antiflirting2", wo sie jeden Tag sehen können, was Männer Frauen täglich so für Nachrichten schicken. Lesen Sie Artikel wie "The Children of Pornhub" von der New York Times. Lesen Sie Eve Enslers "Vagina Monologe" oder "Die Entschuldigung". Lesen Sie Christina Lambs "Our Bodies Their Battlefield". Oder "Sei kein Mann" von JJ Bola. Oder "Ich habe einen Namen" von Chanel Miller. Und hinterfragen Sie gerne auch mal, wie zum Beispiel ein Tarantino Gewalt gegen Frauen inszeniert und glorifiziert, und ob man das noch alles so unhinterfragt abkulten sollte.

DK

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