In der ersten Szene von Laurence Anyways folgen wir einer Frau durch die Straßen einer Stadt. Sie ist nur von hinten zu sehen, elegant gekleidet, ihr langes Haar weht im Wind. Untermalt von Fever Rays "If I Had A Heart" läuft sie durch Nebelschwaden ins Ungewisse. Auf ihrem Weg bleiben die bohrenden Blicke der vorbeigehenden Menschen an ihr hängen. Dabei wechseln wir immer wieder in den Point-of-View der Protagonistin, Laurence (Melvil Poupard), die befremdlichen, neugierigen und verächtlichen Blicke durchbrechen die vierte Wand und richten sich direkt in die Kamera.
Ausgangspunkt der Erzählung ist Laurences Entscheidung, sich fortan so zu identifizieren und zu präsentieren, wie sie sich schon immer gefühlt hat: als Frau. Ihr Coming-Out stellt einiges auf den Kopf - ihren Job als Lehrerin an einer Schule, ihr Verhältnis zu ihren emotional abwesenden Eltern, und nicht zuletzt die Beziehung zu ihrer Partnerin Fred (Suzanne Clément), mit der sie seit einiger Zeit zusammenwohnt. In seinem dritten abendfüllenden Spielfilm aus dem Jahr 2012 hat Regisseur Xavier Dolan mit nur 23 Jahren ein regelrechtes Epos über eine Paarbeziehung geschaffen. Mit 19 Jahren drehte er sein Debüt, I Killed My Mother, insgesamt sechs seiner bisher insgesamt acht Spielfilme liefen auf dem renommierten Festival de Cannes. In seiner Filmografie geht es immer wieder um queere Coming-of-Age-Geschichten und angespannte familiäre Beziehungen – wie der Filmtitel seines Erstlingswerks bereits verrät, meist zwischen Mutter und Sohn. Dabei hat er ein wahres Talent dafür, Antagonist:innen mit Ecken, Kanten und viel Herz zu erschaffen, die stets zwischen Distanz und Nähe, zwischen bitterer Enttäuschung und bedingungsloser Liebe schwanken.
Zwischen Hingabe und Verzweiflung © © 2012 Production Laurence INC - MK2 SA - ARTE France CINEMA. All rights reserved.
Laurence Anyways erweitert diese antagonistische Dynamik auf Fred und Laurences Familien- und Freundeskreis und bleibt dabei doch sehr nah an seinem zentralen Paar. Der Film begleitet Laurence und Fred fast eine ganze Dekade lang, bis in die späten 1990er Jahre. Die beiden kommen mehrmals im Versuch, ihre Beziehung mit ihren Lebensentwürfen zu vereinbaren, an ihre Grenzen. Trotz Freds Bereitschaft, Laurence in ihrer Transition zu unterstützen, flüchten sich beide immer wieder in die Nähe anderer Personen. Laurence findet Gemeinschaft im Kreis der Five Roses – eine schillernde Kompanie alter Showgirls und ihrer Protegés, die eine selbst auserwählte Familie bilden.
Was vom Himmel fällt
Zu Beginn des Films sagt Laurence: "Ich suche eine Person, die meine Sprache versteht und spricht." In Laurence Anyways hat der junge Regisseur seine eigene charakteristische filmische Sprache gefunden. Naturelemente, Wind und Wetter kommen hier immer wieder im Zusammenspiel mit emotionalen Höhe- und Tiefpunkten zum Einsatz. Während im Moment tiefster Trauer eiskalte Wasserfälle im Wohnzimmer auf Fred herabstürzen, regnet es in Momenten des Glücks buchstäblich Kleider vom Himmel. In einer besonders ikonischen Schlüsselszene laufen Laurence und Fred durch eine Schneelandschaft vor blauem Himmel, im Hintergrund spielt der pulsierende Track "A New Error" von Moderat. Um sie herum fallen Kleidungsstücke vom Himmel – seidene Chiffon-Schals, Blusen, Mäntel, Wollpullover und Anzughosen, während sich die beiden Liebenden unbeirrt in den Armen halten.
Zärtliche Art der Beobachtung © © 2012 Production Laurence INC - MK2 SA - ARTE France CINEMA. All rights reserved.
Solche originellen Stilmittel spielen mit zentralen Themen des Films. Die Kleidung der Figuren spiegelt nicht nur die Epoche der 90er Jahre wider, sondern auch die emotionale Innenwelt der Charaktere. Was sagt unser Äußeres über unser Inneres aus? Mit einem Augenzwinkern scherzt Laurence, ihr Aussehen sei für sie so wichtig wie Luft für ihre Lunge. So verdeutlicht der Film die Relevanz der Oberfläche für das Tiefgründige und macht gleichzeitig subtil klar, wie wichtig diese Dinge auch für die Selbstverwirklichung hinsichtlich der Gender-Expression sind.
Die kleinen Triumphe
Dolan sagte selbst in Interviews, dass Laurence Anyways für ihn kein Film über Trans-Identität, sondern in erster Linie eine Liebesgeschichte und eine Erzählung über das Anderssein sei. Tatsächlich kann Laurences Transition als Metapher für das Streben nach Authentizität und Selbstentfaltung jeglicher Art gelesen werden. Doch obwohl diese Metapher glaubhaft und universell resoniert, würde eine solche Lesart die spezifischen Erlebnisse, Kämpfe und Errungenschaften im Leben einer Trans-Person verwaschen, die im Film vordergründig gemacht werden. Eingerahmt vom modernen Soundtrack und der impressionistische Bildsprache, werden sowohl dysphorische als auch euphorische Momente in Szene gesetzt. Als Laurence zum ersten Mal in femininer Kleidung vor ihre Klasse tritt, und sich wieder alle Blicke auf sie richten, hebt nur eine Schülerin die Hand – und fragt nach den Hausaufgaben. Aus solchen kleinen Triumphen schöpft Laurence Anyways seine spürbar sprudelnde Energie. In Freds Worten: "The sky is the limit!"
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CG