30 Jahre lang ist Truman Burbank der Star einer Reality-Show, ohne davon zu wissen. Als ungewolltes Kind wurde er von einem Unternehmen adoptiert – sein Ziehvater Christof ist der Schöpfer der raffinierten "Truman Show", die ihn fürsorglich ausbeutet.
Bereits 1959 entwickelte der Schriftsteller Philip K. Dick, von dem auch die literarische Vorlage des Science-Fiction-Klassikers Blade Runner stammt, ein ähnliches Szenario. Während es im Roman "Zeit aus den Fugen" jedoch vorrangig um eine Auseinandersetzung mit der realen atomaren Bedrohung im Kalten Krieg ging, schrieb Andrew Niccol knapp vierzig Jahre später ein Drehbuch, das sich heute noch als bitterböse Satire auf die mediale Wirklichkeit verstehen lässt.
Wenn man sich die heutigen Auswüchse von Social Media und deren Effekte auf die altmodischen Medien anschaut, entstand Die Truman Show, Baujahr 1998, noch in der Phase der Ruhe vor dem Sturm.
Der fertige Film vollbrachte dann das Kunststück, einer immer absurderen Fernsehwelt – Stichwort "Big Brother"-TV – noch eins draufzusetzen. Das lag letztendlich auch an der Inszenierung durch den Blockbusters-with-Attitude-erprobten Regisseur Peter Weir (Der Club der toten Dichter) sowie am Hauptdarsteller Jim Carrey. Carrey brachte ebenjene tragikomische Seite des Geschehens rüber, das bei aller dramaturgischen Zuspitzung eine derart realistische Note in sich trägt, dass man später ein tatsächliches psychologisches Phänomen danach benannte. So bezeichnet das Truman-Syndrom heute die Vorstellungskraft von Menschen, die davon überzeugt sind, dass die Welt um sie herum künstlich erzeugt wurde, um sie zu täuschen.
In Trumans Fall stimmt das sogar, wie wir wissen. Er ist "On The Air. Unaware", wie es in der Werbung für die Show im Film heißt – kommt der Sache aber allmählich auf die Schliche. Zwischen Erkenntnis des Wahren und einer betrügerischen Paranoia liegt mitunter nur eine dünne Linie – so könnte eine unterschwellige Message des Films lauten. Alle anderen Bewohner*innen des verschlafenen US-Küstenstädtchens Seahaven sind nämlich Schauspieler*innen. Entweder mit ethisch besonders unerträglichen, tragenden Rollen – wie seine Ehefrau "Meryl" und der beste Kumpel "Marlon" – oder eben Komparsen, die hier ihren Lebensunterhalt mit einem falschen Leben verdienen und somit auch nicht weit weg sind von vielen real existierenden Menschen mit so genannten Bullshit- oder Mc-Jobs.
Das gigantische Studio der Show mag an tatsächliche Versuche der Nachahmung der Bedingungen menschlichen Lebens erinnern, einfach unter "Biosphere 2" nachschlagen. Die geskriptete Wirklichkeit mitsamt Product Placement gemahnt jedoch eher an die Entwicklungen in der damaligen Medienlandschaft. Wenn man sich die heutigen Auswüchse von Social Media und deren Effekte auf die altmodischen Medien anschaut, entstand Die Truman Show, Baujahr 1998, noch in der Phase der Ruhe vor dem Sturm. In einer beinahe beängstigend prophetischen Weise greift der Film diese so passende Metapher sogar auf – und gleich zwei Gruppen von Publikum stellt sich die bange Frage, ob Truman auf der Flucht in die Wirklichkeit in den Fluten seiner Fake-Realität ertrinken wird. Das Publikum von Christofs Show und wir als Publikum des Films von Peter Weir. Btw: Ähnlich einem zeitgenössischen Shitstorm in den Sozialen Medien ist das Wasser im Studio echt genug, um unter Umständen fatale Wirkung zu erzielen.
Die Truman Show wird von ihrem Macher Christof damit beworben, dass die "Echtheit" des Charakters von Truman Burbank durch die Künstlichkeit der ihn umgebenden Wirklichkeitsblase auf geradezu anrührende Weise betont wird. Dass die Sendung im Film trotz ihrer unmenschlichen Aspekte weltweit Milliarden Fans hat, ist unter diesem Gesichtspunkt und eingedenk all dessen, was wir durch das Internet und die Kapitalistischen Verhältnisse, die es hervorgebracht haben, über uns selbst lernen durften, keineswegs unrealistisch. "Authentizität" ist auch eine Ware.
Neben zahlreichen Pilosophie-Seminar-tauglichen Aspekten wie dem letztgenannten und in die Tiefe gehenden Referenzen, birgt Die Truman Show in ihrem unvermeidlichen Showdown noch einen nie an Aktualität verlierenden Kippmoment: Es ist die Möglichkeit für Truman, die "falsche" Welt zu verlassen, die nach den Worten des Masterminds Christof das kleinere Übel im Vergleich zur herrschenden Realität außerhalb seines Showkonzepts darstellt. Und sind wir als Filmzuschauer*innen nicht gerade aus dieser harten Realität in die Welt des Films eingetaucht, um mal von deren allzu wirklichen Problemen abzuschalten? Nun, wer Die Truman Show anschaut, um vor der Wirklichkeit zu fliehen, kommt nicht weit. Und ebenso gut könnte es passieren, dass Trumans weiteres Leben in der wirklichen Welt näher bei seinen künstlichen Ursprüngen bleibt, als ihm lieb sein kann.
Die Truman Show besticht nicht nur durch ihr offenes Ende, sondern auch durch ein tolles Ensemble mit Laura Linney und Ed Harris als Trumans Nemesis und mit phantastischer Musik, für die unter anderem der Avantgarde-Komponist Philip Glass verantwortlich zeichnet. Gehen wir also durch das letzte Adventstürchen hinein in diese so verrückte wie vertraute Welt. Und denken wir an Heiligabend an die beinahe 30 Weihnachtsfeste – mag es sich auch um fiktionale Weihnachtsfeste gehandelt haben –, die Truman nur fürs Publikum gefeiert hat. Nehmen unsere Liebsten in die Arme und schenken wir ihnen einfach… uns selbst. Es mag ein frommer Wunsch sein – aber wann sonst sollte man ihn wünschen, wenn nicht jetzt?
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WF