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Years & Years: Zeitrasende

Diese Jahre sind Lehrjahre: Für die Figuren, fürs Publikum, für die Menschheit. Und man fragt sich: Handelt Russell T. Davies’ Science Fiction-Serie überhaupt von der Zukunft?

Filmgeschichten 15. Oktober 2020

Kinder, wie die Zeit vergeht! In Russell T. Davies’ Serie Years & Years tut sie dies geradezu rasend, allerdings läuft sie nicht spurlos an den Menschen vorbei. Sie durchzuckt sie eher wie ein Blitz. Das ist schmerzhaft für die Held*innen und Anti-Held*innen der Geschichte und hinterlässt bei ihnen fiese Wunden, das Publikum jedoch bleibt dauerhaft elektrisiert.
2019 ging die Ko-Produktion von BBC One und HBO auf Sendung und umfasst sechs Folgen á 60 Minuten, worin sie einen erzählten Zeitraum von 15 Jahren abdeckt. Gibt es ein Genre für diese Art Unterhaltung? Science-Fiction. Dystopie. Drama. You name it.

Ein Moment der bitteren Erkenntnis © Studiocanal

Ein Moment der bitteren Erkenntnis © Studiocanal

Der ganze Irrsinn beginnt 2019, und in seinem Mittelpunkt steht die Familie Lyons. Die Welt dreht sich in Years & Years von Anfang an wahnsinnig schnell um diese Achse: Stephen und Celeste Lyons, verheiratet, zwei Töchter. Stephens Bruder Daniel, der bald mit seinen Freund Ralph Hochzeit feiern möchte. Zwei Schwestern gibt es auch noch: Die alleinerziehende Rosie, die im Rollstuhl sitzt die ebenfalls homosexuelle Edith, die über ein ausgeprägtes politisches Gewissen verfügt. Kopf der Familie: Großmutter Muriel. Very british, diese Lyons, trotz des französischen Einschlags im Namen, der außerdem verhindert, dass sie waschechte Lions sein können. Britischer Humor kommt bei Russell T. Davies (Queer As Folk, Doctor Who) eben nie zu kurz, auch wenn der sich schlecht mit jenem Witz vergleichen lässt, den etwa Little Britain versprüht. Diese Sorte hier ist abgründiger, böser und weniger zum Kichern. Treffender.
Wir als Zuschauer*innen bemerken ziemlich früh: Alles an diesen Lyons und dem Plot um sie herum strebt in die Zukunft, fällt jedoch auf die Gegenwart zurück. Auf unsere jetzige "Normalität". Da macht eine Frau im Fernsehen Furore, indem sie Kraftausdrücke benutzt und gegen die Herrschenden aufmuckt.

Höllentrip mit dem Schlauchboot auf die Insel © Studiocanal

Höllentrip mit dem Schlauchboot auf die Insel © Studiocanal

Emma Thompson spielt Vivienne Rook, die so etwas wie die heimliche Hauptfigur von Years & Years wird. Im Lauf der Jahre steigt sie zur Berufspolitikerin auf und wird von einer Mehrheit gewählt. An höchster Stelle zeigt sie dann mit einer unmenschlichen Migrationspolitik, was von Populist*innen wie ihr zu halten ist. Die Verflechtung mit eigenen wirtschaftlichen Interessen tut ein Übriges. Bei aller Flatterhaftigkeit der Zustände, die sich angesichts der enormen Geschwindigkeit der gesellschaftlichen, technologischen und politischen Entwicklungen kaum noch greifen lassen, hält Years & Years von Anfang an daran fest: Dieser Vivienne Rook ist nicht zu trauen, auch wenn manche Figuren es zumindest zeitweise tun.

Eine schrecklich… eine Familie eben © Studiocanal

Eine schrecklich… eine Familie eben © Studiocanal

All die heißen Eisen, die Russell T. Davies mit Years & Years anfasst, würden einem Hufschmied reichen, um Dutzenden Pferden neue Schühchen zu verpassen. Doch wenn man mal kurz denkt, er nimmt ein Thema auf die leichte Schulter oder lässt die Sehnsucht Bethanys nach einer transhumanen Existenz zum billigen Scherz verkommen, hat man sich getäuscht. Years & Years imitiert die Missverständnisse, die Aufmerksamkeitskonjunkturen und das Tempo der Realität perfekt. So wirkt die Geschichte wie das Trommeln von Fäusten gegen die künstliche Vierte Wand, bis sich die Ereignisse wie Schläge in unsere Magengruben anfühlen. Die Serie erzählt genial von Möglichkeitswelten, zugleich aber nimmt es die einzig wirkliche Welt exakt unter die Lupe und zwingt das Publikum in die Seile. Sollte die Menschheit noch Zeit genug dafür haben, wird sie demnächst sicher ein US-amerikanisches Remake dieser Show erleben. Warum? Davon sollten Sie sich selbst überzeugen.

WF

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