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Im Taxi mit Madeleine: Die Kunst des Zuhörens

Ab Ende Juni gibt es Im Taxi mit Madeleine auch im Heimkino zu sehen. Wir haben mit zwei Menschen gesprochen, die sich mit Taxifahrten und Lebensgeschichten auskennen: Jens Marggraf ist Taxiunternehmer und -Podcaster und Thomas Sell interviewt Menschen und hält ihre Lebensgeschichten für die Ewigkeit fest.

23. Juni 2023

In Christian Carions Spielfilm erzählt eine alte Dame dem mürrischen Taxifahrer Charles die Geschichte ihres Lebens. Zwischen den beiden entwickelt sich ein Vertrauensverhältnis. Wie hat euch Im Taxi mit Madeleine gefallen?

Thomas Sell: Ich habe ihn zwei Mal gesehen und habe beide Male geheult und gelacht!

Jens Marggraf: Sehr gut. Der Film hat mich wirklich berührt.

Was hat euch besonders beeindruckt?

JM: Der Film zeigt das echte Leben im Taxi. Die persönliche Beziehung, die wir in den Fahrzeugen aufbauen. Das habe ich oft erleben dürfen. Ich bin nicht so der grimmige Typ wie Charles im Film. Aber es spiegelt eben das wahre Leben wider, dass Taxifahrer*innen auch mal Sorgen haben. In der Branche verdient man nicht so viel, da sind Existenznöte keine Seltenheit. Madeleines Lebensgeschichte, von der ja auch Charles mehr und mehr fasziniert ist, hat mich beim Zuschauen richtig gepackt. Ich musste dran denken, dass man als Taxifahrer*in von manchen Fahrgästen gezielt noch ein zweites und drittes Mal – sozusagen als persönlicher Chauffeur – gebucht wird. Und wenn man dann nachfragt, was dem Kunden an der letzten Fahrt so gefallen hat, hört man öfter, dass es einfach guttut, mit jemandem zu fahren, der zuhören kann.

Thomas, Zuhören ist dein Metier …

TS: Bei Taxis sprechen wir von der größten Flotte der Welt, und auf dem Weg zum Ziel passiert überall das Gleiche: Du steigst ein, fängst an zu erzählen und bist überrascht, dass da vorne jemand sitzt, der dir zuhört. Als Fahrgast kenne ich diesen Überraschungsmoment, und das Schöne an dem Film ist, dass er ihn so wunderbar einfängt. Über den Austausch zwischen Madeleine und Charles im Taxi erfahren wir viel mehr über die beiden Filmfiguren, als wenn sie einzeln ihre Geschichten erzählen würden. Das Taxi ist nun mal ein lebhafter Ort der Auseinandersetzung. Diese reale Erfahrung und meine Leidenschaft fürs Taxi, die eng mit meiner langjährigen beruflichen Praxis verknüpft ist, haben mich unter anderem dazu gebracht, "Zeit zum Zuhören" ins Leben zu rufen.

Madeleine (Line Renaud) und Charles (Dany Boon) © Copyright: © 2022 - UNE HIRONDELLE PRODUCTIONS - PATHÉ FILMS - TF1 FILMS PRODUCTION - ARTÉMIS PRODUCTIONS Photos : © Jean-Claude Lother

Madeleine (Line Renaud) und Charles (Dany Boon) © Copyright: © 2022 - UNE HIRONDELLE PRODUCTIONS - PATHÉ FILMS - TF1 FILMS PRODUCTION - ARTÉMIS PRODUCTIONS Photos : © Jean-Claude Lother

Thomas, hören Menschen einander heute weniger zu als früher? Einerseits wird man dieses Gefühl nicht los, andererseits zeigt Madeleines Geschichte, dass es für sie in der Vergangenheit schon schwierig war, sich Gehör zu verschaffen.

TS: Wir sind alle ein Spiegelbild unserer Zeit und der Gesellschaft – das gilt auch für Charles und Madeleine. Mit ihren Geschichten treffen sie an einem entscheidenden Punkt ihres Lebens aufeinander, und wir als Zuschauer*innen erfahren durch sie etwas über uns selbst. Und ich glaube schon, dass es gerade ein besonders großes Bedürfnis danach gibt, die eigene Geschichte zu erzählen und jemanden zu haben, der einem dabei zuhört. Die Coronazeit hat sicher dazu beigetragen, dieses Gefühl zu verstärken.

Jens, du bist Taxifahrer und Taxiunternehmer. Außerdem betreibst du mit Babett Mahnert den Podcast "Taxi To Go". Was ist dir beim Taxifahren besonders wichtig?

JM: Ich kann selbst nicht mehr so viel fahren wie früher, dafür ist mein Unternehmen mittlerweile zu groß. Aber es gibt Fahrgäste, für die ich mir extra eine Pause nehme, um sie zu chauffieren. Darunter sind einige ältere Damen, starke Persönlichkeiten, ähnlich wie Madeleine im Film, zu denen ich schon ein enges Verhältnis aufgebaut habe. Von einigen kenne ich nach fünf, sechs Fahrten fast ihre ganze Lebensgeschichte. Als Taxifahrer*in muss man das eigene Ego auch mal zurückstellen und sich den Geschichten der Fahrgäste widmen. Das Wichtigste, das ich neuen Kolleg*innen rate: "Leute, hört einfach zu!"

TS: Es geht um Aufmerksamkeit. Manchmal braucht man, um richtig zuzuhören, vorher eine Frage. Dann merkst du, ob der Mensch, der gerade ins Taxi gestiegen ist, reden möchte oder lieber seine Ruhe haben will. Deswegen ist es wichtig hinzuhören, bevor man zuhört. Das mache ich auch tagtäglich in meinen meine »Zeit zum Zuhören«-Interviews. Eine banale Frage wie »Soll ich die Musik ausmachen?« kann im Taxi schon das Eis brechen.

JM: Das ist eigentlich eine ganz normale Frage. Aber manche Fahrgäste sind trotzdem überrascht, wenn man ihnen so aufmerksam begegnet. Es geht da um Kleinigkeiten.

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Die Taxifahrt mit Madeleine wird Charles‘ Leben verändern. Jens, hattest du auch schon eine so einschneidende Begegnung im Taxi?

JM: Ich habe im Taxi schon viele spannende Begegnungen gehabt. Zum Beispiel mit einer älteren Dame, die regelmäßig mit mir zu ihrem Mann ins Altersheim fährt. Mir wurde allmählich bewusst, wie wichtig es ihr war, einige Stunden bei ihrem Mann am Bett zu verbringen und seine Hand zu halten. Unterwegs habe ich Stück für Stück alles über sie und ihre Familie erfahren. Dann kam Corona, und die Dame konnte nur mit ihrem Mann telefonieren, wobei es ihm schwerfiel, überhaupt zu sprechen. Als wir das erste Mal nach dem langen Lockdown hinfuhren, kam sie mit Tränen in den Augen nach draußen, und ich dachte, dass es ihrem Mann vermutlich sehr schlecht geht. Dabei war sie nur so gerührt, dass sie ihn endlich wieder besuchen konnte. Das hat mich tief bewegt.

Thomas, was für Menschen kommen auf dich zu, um dir ihre Geschichten zu erzählen?

TS: Oft sind es Menschen über 70, die "Zeit zum Zuhören" in Anspruch nehmen. Und häufig werde ich von den Enkelkindern und den Kindern beauftragt, weil sie mehr wissen wollen über Opa, Oma, Mutter oder Vater. Nachher sagen sie durch die Bank weg, dass sie vieles von dem, worüber in den Interviews gesprochen wurde, gar nicht gewusst hatten.

Ist das ist die Brücke von "Zeit zum Zuhören" zum Taxi?

TS: Genau, das ist die Gemeinsamkeit. Hier wie da erzählt man Fremden eine Geschichte, die man den Freunden oder der Familie nicht erzählt. Vor ein paar Wochen habe ich mit einer älteren Dame lange über die erste große Liebe gesprochen. Ich sagte: »Darf ich sie fragen, ob sie auch den ersten Sex mit ihrer großen Liebe hatten? Die Antwort – "auf der Rückbank meines Käfers" – brachte uns beide zum Lachen.

War ihr das nicht unangenehm?

Ich meinte: "Jetzt ist es raus und Sie können entscheiden, ob sie es ihren Kinder und Enkelkindern jetzt sagen wollen oder ob sie sie die CD mit der Aufzeichnung des Gesprächs es erst nach ihrem Tod hören sollen." Die Entscheidung bleibt bei meinen Interviewpartner*innen. Das ist das Prinzip von "Zeit zum Zuhören". Unter den Menschen, die mein Angebot wahrnehmen, gibt es einige Palliativpatient*innen, die ihre Geschichte ausdrücklich für die Angehörigen auf Tonträger bannen möchten. Mit Sex, Leidenschaft, Schmerz, Entbehrung und allen Facetten des Lebens. Das sehe ich Parallelen zu Im Taxi mit Madeleine und zu Madeleines unglaublichem Schicksal. Man möchte die Welt nicht verlassen, ohne seine Geschichte erzählt zu haben.

Wenn zwei Menschen einander viel zu erzählen haben … © 2022 - UNE HIRONDELLE PRODUCTIONS - PATHÉ FILMS - TF1FILMS PRODUCTION - ARTÉMIS PRODUCTIONS Photos : © Jean-Claude Lother

Wenn zwei Menschen einander viel zu erzählen haben … © 2022 - UNE HIRONDELLE PRODUCTIONS - PATHÉ FILMS - TF1FILMS PRODUCTION - ARTÉMIS PRODUCTIONS Photos : © Jean-Claude Lother

Im Taxi mit Madeleine ist auch eine Reise durch Paris auf einer sehr persönlichen Route. Madeleines Lebensweg. Welche Stadt wäre euer Favorit, wenn ihr euch jetzt gleich dort als Gast auf eine Taxifahrt begeben könntet?

TS: Ich würde eine Fahrt durch Hamburg wählen. Ich komme nicht aus der Stadt aber lebe jetzt seit etwas mehr als 25 Jahren hier. Hamburg hat für mich alles zu bieten. Eine Stadt, die grün ist, wunderschöne Bauwerke, viel Wasser, eine Menge Brücken und auch viel Kultur hat. Eine Stadt, in der ich das Hanseatische spüre. Das finde ich sehr schön. Ich fahre immer gerne mit dem Taxi, und wenn mir eine neue Route vorgeschlagen wird, dann probiere ich sie gerne aus und bin immer wieder überrascht, dass ich Sachen sehe auf dem Weg vom Hafen, Flughafen oder zum Bahnhof, die ich bis dahin noch nicht gesehen habe.

JM: Ich bin in allen deutschen großen Städten schon Taxi gefahren. Aber dadurch, dass ich ja selbst Taxi fahre, gucke ich beim Fahren gar nicht so viel aus dem Fenster. Ich habe eher den Fokus auf den/die Fahrer*in und schaue, wie die als Dienstleister*innen sind. Eine Stadt, wo ich das nicht gemacht habe, war New York. Das hatte auch mit der Tageszeit zu tun. In New York sind wir sehr früh am Morgen gefahren, als die Straßen verhältnismäßig leer waren. Wir haben eine größere Tour durch Manhattan gemacht. Das war echt cool. Aber Paris würde mich auch reizen. Paris ist eine traumhaft schöne Stadt.

Im Taxi mit Madeleine von Christian Carion mit Line Renaud und Dany Boon startet am 13. April in den Kinos

Der Film beginnt mit einigen alltäglichen Taxi-Szenarios. Da wäre der Kunde, der der Route von Taxifahrer Charles nicht vertraut. Kennst du das Problem, Jens?

JM: Es gibt das Klischee, Taxifahrer*innen würden prinzipiell die längere Route wählen. Aber in der Gegend, wo mein Taxiunternehmen angesiedelt ist, können wir gar keinen Umweg fahren, weil der Ort dafür viel zu klein ist. Grundsätzlich gilt: "Frag den Kunden!". Manchmal kann es sich auch lohnen, ein paar ungewöhnliche Schleichwege zu fahren, etwa um den Zug oder das Flugzeug noch zu bekommen. Hauptsache, man bindet die Kund*innen mit ein. Vertrauen ist das große Thema. Das Gewerbe wird oft so negativ gesehen und ich würde den Leuten gerne zurufen: "Natürlich gibt es unter Taxifahrer*innen auch ein paar schwarze Schafe. Aber hey, wir sind eine so geile Branche. Es gibt so viele tolle Menschen, die in den Autos sitzen."

TS: Durch Corona haben viele den Job gewechselt, Taxiunternehmen mussten aufgeben, weil sie keine Fahrer*innen mehr gefunden haben. Jetzt wird überall empathisches Personal gesucht. Im Pflegedienst, in der Hotel- und Gastrobranche, bei den Chauffeurdiensten – und in den Taxibetrieben. Es gibt nicht viele Gewerbe, die Kontakt zur gesamten Gesellschaft haben. Auch wenn es sich beim Taxi um ein hochpreisiges Angebot der Personenbeförderung handelt, triffst du darin auf ein Spiegelbild der kompletten Gesellschaft. Von denen, die besoffen nachts von der Reeperbahn nach Hause fahren bis zu den Palliativpatient*innen, die zur Chemo-Therapie müssen.

JM: Beim Taxifahren habe ich gelernt, die Menschen nicht mehr zu beurteilen. So wie Charles am Anfang genervt von Madeleine ist, und die beiden sich im Lauf des Films immer näherkommen, merkt man auf vielen Fahrten, dass der erste Eindruck nicht immer der richtige ist. Das ist es, was die Begegnungen im Taxi so spannend macht. Man kann sagen, dass aus Fahrer*innen und Passagieren unterwegs Menschen werden.

Im Taxi mit Madeleine gibt es ab dem 29. Juni als VOD und in den gängigen Heimkino-Formaten.

WF

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