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Sie leben… immer noch

1988 eher als Flop gestartet, ist John Carpenters unterhaltsamer, trashiger, paranoider "Mittelfinger gegen Reagan" inzwischen ein Kultfilm von ganz links bis ganz rechts – und auf verquere Weise noch immer aktuell.

Filmgeschichten 11. Dezember 2019

Wollt ihr mir wirklich weiß machen, Donald Trump, Alexander Gauland, Jair Bolsonaro und Wladimir Putin seien keine Aliens? Habt ihr noch nicht verstanden, dass Greta Thunberg ihr "How dare you?" einem Saal voller Extraterrestrischer ins Gesicht gerufen hat? Einer Bande von Wesen, die unsere Erde erwärmen, damit sich unser Klima dem ihres Heimatplaneten annähert? Spürt ihr denn nicht, wie euch der Feed eures Instagram-Channels Meter für Meter das Hirn frittiert? Wie euch die bunten Werbeplakate da draußen ruhigstellen? Nein? Dann setzt verdammt noch mal endlich diese Sonnenbrille auf !!!!111!!!!!!1111111!!!!!

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Pardon. Da ist mir das Filmerlebnis ein wenig in den Kopf gestiegen. Aber wenn man sich dieser Tage noch einmal Sie leben aus der John-Carpenter-Box zieht, kommt man nicht umhin festzustellen, dass dessen Holzhammer-Kritik gegen die gierige Weltelite im Speziellen und den Kapitalismus im Allgemeinen noch immer trifft. Was vielleicht auch der Grund ist, dass Sie leben – der im Erscheinungsjahr 1988 floppte – noch immer einen wachsenden Kultstatus genießt, auch wenn er dabei Menschen anzieht, die Carpenter ausdrücklich nicht als Fan haben will.

Herr Mustermann, John Nada, sucht einen Job und findet eine Verschwörung. © (C) 1988 STUDIOCANAL S.A.S. All Rights Reserved.

Herr Mustermann, John Nada, sucht einen Job und findet eine Verschwörung. © (C) 1988 STUDIOCANAL S.A.S. All Rights Reserved.

"Gehorche!", "Konsumiere!", "Vermehret euch!"

Sie leben erzählt die Geschichte des obdachlosen Arbeiters John Nada, gespielt vom Wrestler "Rowdy" Roddy Piper. In einer namenlosen Stadt, die Los Angeles sein dürfte, findet er einen Aushhilfs-Job und Anschluss in einer Obdachlosensiedlung. Dort beobachtet er seltsame Vorgänge, die schließlich darin münden, dass ihm mit einer Sonnenbrille die Augen geöffnet werden. Klingt seltsam, ist es auch – aber mit Hilfe dieser Brille erkennt Nada die grausame Wahrheit: Die Menschheit wurde von Aliens infiltriert. Die Werbeplakate, Zeitungen, Magazinen schreien und säuseln in Wirklichkeit Anweisungen wie "Gehorche!", "Konsumiere!", "Vermehret euch!". Später lernt Nada: Wer mit den Aliens, die allesamt zu den besser gestellten zählen, gemeinsame Sache macht, wird befördert, bekommt Macht und vor allem Geld. Zwischen dem Ausmalen des paranoiden Settings, das einer Kurzgeschichte aus dem Jahr 1963 von Ray Nelson entnommen ist (die Carpenter wiederum über eine Comic-Adaption entdeckte), gibt es viel Raum für sinnlose Ballereien, grandiose und bräsige (oft beides zugleich) One-Liner von Piper, wie er sie beim Wrestling oft einsetzte und für eine der längsten One-on-One-Kloppereien der Kino-Geschichte, in der sich Nada mit seinem Kumpel Frank Armitage prügelt, weil der einfach nicht diese verdammte Brille aufsetzen will. Der Name Frank Armitage war übrigens auch das Pseudonym, das Carpenter als Drehbuchautor nutzte, und ist eine Referenz an einen Charakter des Horror-Schriftstellers H.P. Lovecraft.

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Ronald Reagan den Stinkefinger zeigen

Bei all der Action, der man das übersichtliche Budget ansieht – was den Spaßfaktor eher erhöht – ging es Carpenter aber vor allem um die soziale Komponente im Ganzen. Die langen Szenen unter den Obdachlosen zum Beispiel, die verfallenen Häuser, durch die sich manchmal gekloppt wird, der Konsumrausch – all das verband Carpenter mit den sogenannten Reaganomics. Eine Wirtschaftspolitik, die auf Kosten der Sozialsysteme die Reichen noch reicher machte – mit der Prämisse, dass davon ja auch der Pöbel irgendwann etwas hätte. In einem Interview zum Jubiläum des Films sagte Carpenter einmal: "Ich dachte damals viel über die Werte nach, die Ronald Reagans konservative Revolution beeinflussten. Die Leute waren von Habgier und Geld besessen." Der L.A. Times gestand er 2013: "Ender der Achtziger hatte ich genug davon. Ich beschloss, ein Statement rauszuhauen, so blöd und banal es auch klingen mochte. Daraus ist Sie leben geworden. Und ich liebe es immer noch, dass ich Reagan den Stinkefinger gezeigt habe, als sich das niemand anders getraut hat." Dabei nahm Carpenter gezielt die Republikaner ins Visier und castete sie als Aliens. Noch vor wenigen Jahren bekräftigte Carpenter, dass sein Bild einer sich auf Kosten der Armen bereichernden Elite mit den Jahren eher stimmiger geworden ist. "Sie sind immer noch unter uns. Und sie machen mehr Geld als je zuvor."

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Der Fanclub der Paranoiden

Sie leben ist immer noch verdammt gute Unterhaltung mit Haltung, die sich hinter der Prämisse eines trashigen Action-Science-Fiction-Films versteckt. Trotzdem hat sich Sie leben über die Jahre auch ein paar Fans und Interpretationen eingehandelt, die Carpenter eher zum Kotzen findet. Anfang 2017 sah er sich genötigt auf Twitter noch einmal das Offensichtliche klarzustellen: "THEY LIVE is about yuppies and unrestrained capitalism. It has nothing to do with Jewish control of the world, which is slander and a lie." Zu der Zeit hatten gerade – mal wieder - antisemitische Verschwörungstheoretiker und ihre Fake-News-Schleudern verbreitet, der Film sei eine Metapher auf die von den jüdischen Mitmenschen manipulierte Weltpresse. Auch der mittlerweile verstorbene Roddy Piper hatte 2013 einen eher beschämenden Auftritt in der Sendung "InfoWars" des rechten Radiomoderators Alex Jones. Dort sinnierten die beiden, dass Sie leben in Wirklichkeit doch eine Dokumentation und keine Fiktion sei. Und Alex Jones gestand: "Sie leben ist mein absoluter Lieblingsfilm. Ich habe ihn über hundert Mal gesehen. Da ist alles drin. Die ganze Wahrheit." Alex Jones ist übrigens der Typ, der unter anderem der Welt weismachen wollte, Hillary Clinton betreibe einen Kinderbestell-Service für Pädophile - aus einer Pizzeria in Washington heraus.

Man kann es dem Film nur bedingt vorwerfen, dass seine Unbedarftheit und sein paranoider Tonfall, der sich auch heute in zahlreichen Verschwörungs-Chat-Räumen findet, diese Leute anlockt. Wenn unsere Zeit uns eines gelehrt hat, dann ja leider die Erkenntnis, dass sich heute jeder seine Wahrheit zurechtbiegen kann.

Beenden wir das Sinnieren über die Entertainment-Qualitäten und die Weitsichtigkeit dieses Films also lieber mit einem positiven Beispiel der Inspiration: Sie leben lieferte nämlich auch dem Street-Art-Künstler Shepard Fairey einen der bekanntesten Slogans, den man auf der ganzen Welt an großen Wänden und auf modischen Shirts finden kann. Und damit schließt sich der Kreis zu dem, was wir alle immer tun sollten: "OBEY!".

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