Die Addams Family prägt (nicht nur) die US-amerikanische Kulturlandschaft schon sehr lange – ziemlich genau 90 Jahre mittlerweile. Erfinder und Zeichner Charles Addams hat die Charaktere in den 1930er Jahren für eine Illustrationsreihe im New Yorker kreiert, bis zu seinem Tod 1988 zeichnete er 150 dieser kleinen Comics über die ungewöhnliche Sippe. Die Addams Family (ganz wichtig: mit zwei D!) war von Beginn an Subversion und Satire: die Umkehr des Ideals der perfekten, heilen All-American Family. Mit ihren morbiden, grotesken und makaberen Looks und Vorlieben parodiert sie nicht nur gesellschaftliche Ideale und Moralvorstellungen, sondern ist auch als Plädoyer für eine tolerantere und, nunja, (ausgerechnet) buntere Welt zu verstehen.
Seit den Sechzigern wurde die Addams Family multimedial zum Leben erweckt und vermarktet: Diverse (animierte) Filme und Serien, Videospiele, ein Musical und einer der populärsten Pinball-Automaten aller Zeiten haben das Erbe der Goth-Vorzeigefamilie gesichert.
Los geht alles 1964, als Morticia, Gomez & Co. erstmals für die gleichnamige Serie auf die Bildschirme gebracht werden. Erst zu diesem Zeitpunkt erhalten die Charaktere übrigens Namen und Hintergrundgeschichten, und verdienen eher das Prädikat „schräg“ als „düster“. Die Schwarzweiß-Serie ist als handzahme Komödie ausgelegt, die für Lacher im Mainstream sorgen soll. „They’re creepy and they’re kooky, mysterious and spooky, they’re all together ooky“ heißt es dazu im beschwingten Addams Family Theme – mit seinem ikonischen Schnipsen einer der ganz großen Titelsongs des 20. Jahrhunderts.
So richtig schaurig wird es erst ein Vierteljahrhundert später: Denken wir an die Addams Family, haben fast alle von uns den Cast der gleichnamigen 1991er Produktion (und des 1993er Sequels Die Addams Family in verrückter Tradition) vor Augen: Diese Filme sind Pflichtprogramm für Goths aller Altersklassen, für Fans des leichten Grusels und schwarzen Humors, ein Paradebeispiel für den perfekten Cast und das perfekte Produktionsdesign. Anjelica Huston ist Morticia, Raúl Juliá ist Gomez, Christina Ricci ist Wednesday. Ein Erfolg entgegen allen Erwartungen und Widrigkeiten, übrigens: Die Dreharbeiten zu Die Addams Family sind ein personelles und finanzielles Desaster. Das Filmbudget wird um mehrere Millionen Dollar überschritten, die wirtschaftlich strauchelnde Produktionsfirma Orion Pictures verkauft den Film noch während der Arbeiten an Paramount Pictures, diverse Krankheitsfälle sorgen dafür, dass der Dreh mehrmals pausieren und Regisseur Barry Sonnenfeld letztendlich gleichzeitig als Kameramann fungieren muss.
Mit seinem fantastischen Set-Design, seinen exzentrischen Charakteren und seinem gruselig-sentimentalen Vibe ist Die Addams Family einer der besten Filme, den Tim Burton nie gedreht hat. Es erscheint ganz selbstverständlich, dass der Regisseur nach seinen Erfolgen mit Beetlejuice und Edward mit den Scherenhänden auch diesen Klassiker in ein Gothic-Epos verwandeln würde – schließlich ist der Einfluss der Familie auf zahlreiche seiner Charaktere von Lydia Deetz bis zur Corpsebride unverkennbar. Manch eine:r denkt tatsächlich bis heute, dass Die Addams Family ein Burton-Film ist, der lehnt den Job jedoch ab, um Batmans Rückkehr zu drehen. Ob das klug war, sei mal dahingestellt. Stattdessen geht der Regisseur-Posten an den damals noch unbekannten Barry Sonnenfeld, der noch nie zuvor einen Spielfilm gedreht, jedoch als Kameramann unter anderem mit den Coen-Brüdern zusammengearbeitet und seitdem etwa bei der Men In Black-Reihe Regie geführt hat.
Was wir in Sonnenfelds Addams-Filmen lernen: Die Familie ist loyal, freundlich und naiv. Gomez und Morticia – eines der größten Filmpaare aller Zeiten – pflegen eine leidenschaftliche Ehe, die bis heute alle mit Neid erfüllt, und unterstützen ihre Familienmitglieder quasi bedingungslos. Sie akzeptieren das Andersartige: In ihrem bröckelnden Herrenhaus und ihrer wohlhabenden Familie sind alle willkommen: Butler Lurch, der sowas wie Frankensteins Monster darstellt, das herrenlose Eiskalte Händchen, der wandelnde Haarberg Cousin Itt und sogar Normalos wie seine Frau Margaret.
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Denn was bei den ständigen Kulturclashs immer wieder auffällt: Die Bösen und Feindseligen sind die Anderen. Kleinkarierte Lehrer:innen und Eltern, die sich über die Unterschiede echauffieren, die den Addamses weder aufzufallen noch sie zu stören scheinen. Rassistische und klassistische Snobs wie in Camp Chippewa in Die Addams Family in verrückter Tradition. (Wie Wednesday hier das kolonialistisch glorifizierende Thanksgiving-Stück zerlegt, wird noch heute konservativen Wokeism- und Linksextremismus-Vorwürfen gerecht.) Und dann sind da natürlich noch die Heuchler:innen, Betrüger:innen und Mörder:innen, die es immer wieder auf das Vermögen der Familie abgesehen haben und denen die Familie um ein Haar immer nur mit viel Glück statt finsteren Masterplänen entgeht – allen voran die Schwarze Witwe Debbie Jellinsky, legendär verkörpert von Joan Cusack.
Die Moral von der Geschicht’: Don’t judge a book by its cover. „Menschen sind Menschen – egal, wie sie sich kleiden oder leben“, sagt Gomez-Darsteller Raúl Juliá mal dazu. „Hinter dem ganzen Spaß steckt diese Nachricht: Merkwürdig wirkende Menschen sind auch nur Menschen – echte Menschen, trotz ihrer Merkwürdigkeit.“
„Gomez und Pugsley sind enthusiastisch. Morticia hat ein ausgeglichenes Gemüt, ist zurückhaltend, geistreich, manchmal tödlich. Grandma Frump ist naiv gutmütig. Wednesday ist die Tochter ihrer Mutter. Eine eng gestrickte Family, deren wahrer Kopf Morticia ist“, erläutert Erfinder Charles Addams mal die Familiendynamik. Und tatsächlich sind die Frauen die Smarten hier, die Beschützerinnen der Familie, die Aufmerksamen und Besonnenen. Als Matriarchin Morticia hinter Onkel Fester (perfekt karikiert von Christopher Lloyd) einen Betrüger vermutet, konfrontiert sie ihn ruhig mit dem pseudo-lateinischen Familienkredo „Sic gorgiamus allos subjectatos nunc“ – „Wir laben uns gern an denen, die uns unterwerfen wollen“. Das meinte Charles Addams also mit „zurückhaltend, geistreich und manchmal tödlich“. Morticias Einfluss auf andere berühmte Figuren wie Elvira und Vampira ist darüber hinaus unverkennbar.
Und dann ist da natürlich noch Wednesday, in Die Addams Family dargestellt von der gerade 10-jährigen Christina Ricci, ein Jahr nach ihrem Spielfilmdebüt Meerjungfrauen küssen besser an der Seite von Cher und Winona Ryder. Sie ist die Höllenbrut der ungewöhnlichen, aber sonst doch sehr liebenswerten Familie: sadistisch, ernst, zynisch und antisozial, ihre kindliche Neugier infernalisch verdreht. Von ihr sind weder Empathie noch Humanität zu erwarten (vom gelegentlichen familiären Beschützerinneninstinkt mal abgesehen); ihre fehlende Naivität und Unschuld ist der wohl krasseste Kontrast zur Welt von Small Town America. Damit ist sie ganz anders als ihre Namensvetterin aus der Serie der Sechziger, die als kleines, liebenswürdiges und stets lächelndes Mädchen dargestellt wird. Wie oft Riccis Wednesday hingegen in den beiden Filmen der Neunziger lächelt, lässt sich an drei Fingern abzählen – und steht meist im direkten Zusammenhang mit dem Leid ihr Mitmenschen.
Dass die junge Christina Ricci so ziemlich jede folgende Wednesday-Darstellung geprägt hat, liegt nicht nur an ihrer wunderbar trockenen, teuflischen Performance, sondern auch daran, wie dieser Charakter geschrieben ist: Mit ihrer ruhigen Schlagfertigkeit, Selbstsicherheit und Dominanz über ihren recht dumpfen Bruder Pugsley (der in dieser Inkarnation der Addamses erstmals jünger ist als sie) bietet Wednesday einen alternativen Gegenentwurf des Mädchenseins: Sie trägt kein Rosa, sie lächelt und nickt nicht, sie ordnet sich nicht unter und fragt weder um Erlaubnis noch um Verzeihung. Wenn sie etwas will, sagt sie „Sofort!“ statt „Bitte“. Statt mit Barbies spielt sie mit einer geköpften Puppe namens Marie Antoinette und foltert ihren Bruder mit Armbrust, Beil oder elektrischem Stuhl. Statt für Jungs interessiert sie sich für Mord, die Französische Revolution und das Bermuda-Dreieck. Und das Wichtigste: Ihre Eltern lassen sie. Ein Vorzeigefall der elterlichen Liebe und Toleranz.
„Wir wollten einen weiblichen Teenie-Charakter finden oder schreiben, der genau so ist: selten, selbstbewusst, belesen, smart, merkwürdig – und nicht daran interessiert, sich für irgendwas davon zu entschuldigen“, erklärt Miles Millar 2022 in einem Interview. Er ist gemeinsam mit Alfred Gough der Macher der gefeierten Wednesday-Serie, die nun in eine zweite Staffel geht. Gough ergänzt: „Wir haben diesen Charakter alle sehr geliebt, aber niemand hat sich ausgiebig mit ihm beschäftigt. Wir kennen sie nur als zehn-, elf-, zwölfjähriges Familienmitglied, das immer mal eine witzige Line hat, aber wir wussten nicht viel über sie.“
Also bekam Wednesday die glossy Netflix-Coming-Of-Age-Behandlung: Sie alterte ein paar Jahre, erhielt übernatürliche Fähigkeiten und wurde von der heimischen Goth-Villa ins Internat Nevermore für Außenseiter:innen gesteckt. Als charakteristisch ruhige, skeptische Beobachterin mit hoher Auffassungs- und Reflexionsgabe ist sie dort bald als Hobby-Detektivin unterwegs. Die Serie ist ein Amalgam aus Edgar Alan Poe und Stephen King, Mord ist ihr Hobby und Stranger Things, Harry Potter und Beetlejuice. Nachdem Tim Burton bereits 2013 aus der Produktion des 2019er Addams-Family-Animationsfilms ausgestiegen war, da er daraus keinen Stop-Motion-Film machen durfte, kommt nun endlich zusammen, was zusammengehört: Bei den ersten vier Folgen führt er Regie, außerdem fungiert er als Produzent der Serie.
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Hauptdarstellerin Jenna Ortega ist schon jetzt so etwas wie die Christina Ricci der Gen Z, Wednesday ehrt seine Wurzeln jedoch immer wieder: So spielt Ricci eine der Schlüsselrollen in der ersten Staffel und das Set-Design ist mitunter stark von den Original-Zeichnungen von Charles Addams beeinflusst. Dieses Traditionsbewusstsein und die Liebe zum Detail zeichnen fast jedes Addams-Release aus, zahlreiche Easter Eggs und Referenzen verbinden die verschiedenen Inkarnationen. Die Eröffnungsszene von Die Addams Family (1991), in der die Familie vom Dach ihres Hauses heißes Öl auf Weihnachtssänger:innen kippt, basiert etwa auf einer Illustration von 1946, die so populär war, dass sie auf Weihnachtskarten gedruckt wurde.
Während Wednesday auch im 21. Jahrhundert augenscheinlich kalt, misanthropisch und böse wirkt, hat sie doch einen weichen Kern: Sie formt – wenn auch etwas widerwillig – Freundschaften, hilft anderen, hadert mit ihrer Identität und dem großen Vermächtnis ihrer Mutter und macht gar erste Liebeserfahrungen. Die Wednesday der Neunziger hätte, trotz geteiltem endlosem Schwermut, daran nie gedacht: Sie ist ewige Einzelgängerin mit einem Herz aus Eis. Als sich zwischen ihr und dem jungen Joel im Ferienlager eine Romanze anbahnt und die Hoffnung weckt, dass doch ein bisschen Wärme und Menschlichkeit in diesem Mädchen stecken, zermürbt sie ihn letztendlich mit diesem Dialog – und erschreckt ihn anschließend zu Tode:
Joel: „Wednesday, könnte es nicht sein, dass du auch mal eines Tages heiraten willst und Kinder möchtest?“
Wednesday: „Nein.“
Joel: „Aber was, wenn du den richtigen Mann kennenlernst, der dich anbetet? Der alles für dich tut, der dein ergebener Sklave wäre? Was würdest du dann tun?“
Wednesday: „Ich hätte Mitleid mit ihm.“
Das ist nicht nur eine radikale Absage an die Liebe, sondern ein Ablehnen von Häuslichkeit und vorgeschriebenen Rollenbildern, von klischeehafter Idylle und Selbstaufgabe, vom heteronormativen Ideal der traditionell amerikanischen Kernfamilie. Wednesday Addams, Feminist Icon. Und ob sie das will oder nicht: Damit kommt sie doch ziemlich nach Morticia, die das Hausfrauendasein ablehnt, sich nicht über ihre Rolle als Mutter oder Ehefrau definieren lässt und gleichberechtigt sowie sexuell befreit und gar dominant in ihrer Beziehung mit Gomez ist.
Für ihr Kostümdesign, Art Direction und die Performance von Anjelica Huston erhielten Barry Sonnenfelds Addams-Filme mehrere Oscar- und Golden-Globe-Nominierungen. 1994 wurde bereits an einem Drehbuch für ein weiteres Sequel gearbeitet, der überraschende Tod von Raúl Juliá bereitete der Filmreihe jedoch ein Ende. Anjelica Huston wird oft mit dieser Antwort auf die Frage nach einem weiteren Teil des Kult-Franchises zitiert: „Es tut mir leid, aber nicht ohne meinen Gomez.“ Es ist eine der Kernaussagen der Filme: Liebe und Loyalität bis in den Tod und darüber hinaus.
Die Addams Family und Die Addams Family in verrückter Tradition gibt es noch bis zum 9. Oktober auf unserem "ALLSTARS"-Kanal bei Amazon Prime zu sehen.
Christina Wenig