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Bild zu Die ersten 20 Minuten von Der dritte Mann (und was wir darin über das Wien der Nachkriegszeit lernen)

Die ersten 20 Minuten von Der dritte Mann (und was wir darin über das Wien der Nachkriegszeit lernen)

Der ARTHAUS-Liveticker schaut sich Meisterwerke ganz genau an. Diesmal den berühmten Thriller von Carol Reed mit Orson Welles nach Graham Greenes Story über einen Toten, der sich als quicklebendig entpuppt.

13. November 2024

1. Minute

Das erste Bild ist irreführend. Der Big Ben verweist höchstens noch auf den Handlungsort der literarischen Vorlage von Graham Greene, eigentlich aber nur auf die in Großbritannien ansässige Produktionsfirma. So oder so: Der folgende Film ist heute eine Sehenswürdigkeit, die dem berühmten Glockenturm in nichts nachsteht.

2. Minute

Der Zither-Score von Anton Karas wird während des Vorspanns gleich mit den schwingenden Saiten des Instruments in Szene gesetzt. Der dritte Mann und sein Resonanzkörper, könnte man sagen. Der Sound könnte auch als eine Referenz sein an die frühere Piano-Begleitung von Stummfilmen, heute gilt er als Klassiker. Sein Hauptthema wurde über den Film hinaus bekannt, dessen Stimmung er prägt.

3. Minute

Vienna. Wir sind in Wien angekommen. Schon interessant, wie lässig da aus dem Off über Schwarzmarktgeschäfte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geplaudert wird. Wer sich in der Branche nicht auskannte, landete in der Donau … Früher war also auch nicht alles besser. Hatten wir es doch geahnt.

4. Minute

Ein Mann namens Holly Martins kommt aus den USA in die von den Alliierten kontrollierte Metropole. "Der arme Teufel, vergnügt wie eine Haubenlerche, und ohne einen Cent in der Tasche." Mit den Worten: "Ein Freund hat mir einen Job angeboten" passiert er den Grenzposten. Der Freund, soviel sei verraten, ist Harry Lime aka Orson Welles. Zugegeben, wir gucken den Film nicht zum ersten Mal. Und, auch das sei hier deutlich gesagt, sicher nicht zum letzten Mal.

5. Minute

Dann die Überraschung: "Herr Lime ist tot. Unfall. Überfahren vom Auto." Die Nachricht wird dem Ami mit einem gewissen Schmäh von Paul Hörbiger überbracht.

"Wir müssen über Harry Lime sprechen" © Studiocanal

"Wir müssen über Harry Lime sprechen" © Studiocanal

6. Minute

Die Hauptfigur des Films und mit seinem Darsteller auch einer der großen Stars des Ensembles wird schon nach 5 Minuten in Wien beerdigt? Da wirst narrisch, oder eher: jetzt wird’s noir-risch …

7. Minute

Bei der Beerdigung kann Holly Martins immerhin schon mal einen Blick auf die unvermeidliche Femme fatale werfen, nämlich die von Alida Valli gespielte Anna Schmidt. Dann tritt Major Calloway auf den Plan, der gleich einen zeitlosen Vorschlag für den von den Geschehnissen überrumpelten Martins parat hat:

8. Minute

"Sie sollten was trinken!" An der Stelle gießen wir uns auch immer einen ein.

9. Minute

Martins tut sich selbst keinen Gefallen, als er mit Major Calloway zecht, der ihn provoziert, indem er ihm von Harry Limes kriminellen Machenschaften auf dem besagten Wiener Schwarzmarkt berichtet. Calloway übt sich angesichts von Martins‘ Empörung dazu noch in Arroganz: "Er ist nur ein Schreiberling, der einen in der Krone hat." Ach ja, der amerikanische Freund ist ein erfolgloser Autor von Groschromanen. Die hat er sicher auch nicht nüchtern geschrieben.

10. Minute

Ein unverhofft auftauchender Fan seiner Ergüsse verpasst Martins dann ebenso unverhofft einen Schlag ins Gesicht. Was für ein erster Tag in Wien – hätte er sich selbst nicht abenteuerlicher ausdenken können – egal bei welchem Pegel.

Der Groschenromanautor dreht sich im Kreis © Studiocanal

Der Groschenromanautor dreht sich im Kreis © Studiocanal

11. Minute

"Eine Diskussion über die Literatur der Gegenwart"? Nein, es handelt sich nicht um einen Vorgriff auf das Literarische Quartett, sondern um eine Anspielung auf die nötige Umerziehung der Wiener. Schließlich ist der Nationalsozialismus gerade erst besiegt worden – das heißt aber nicht, dass er nicht in die Kulisse des Films eingeschrieben wäre. Umso düsterer erscheint uns der Ort der Handlung.

12. Minute

"Sagt man hier immer `Pech gehabt`, wenn jemand stirbt?" Na, wundern tät's einen nicht. Wir sind schließlich in Österreich …

13. Minute

Und in einem Noir-Thriller aus dem Jahr 1949 wundern wir uns auch nicht über einen Mann, der sich Baron Kurtz nennt und eine Ausgabe des Martins-Romans "Oklahoma Kid" in Händen hält. Moment mal, Kurtz … Gab es da nicht später diesen Colonel? Whatever. Holly Martins verspricht sich von diesem zwielichtigen Baron jedenfalls Aufkärung. Wir halten ihm zugute, dass er sich immer noch akklimatisieren muss im finsteren Großstadtdschungel. Jetlag und so weiter …

14. Minute

"Ich mache Sachen, die vor dem Krieg undenkbar für mich waren", raunt der Baron. Langsam wird es echt unheimlich… Was hat er wohl während des Kriegs gemacht? Diese Anspielung auf Nazi-Verbrechen ist wohl eher kein Zufall.

15. Minute

Der Baron erklärt haarklein, wie Harry Lime das Zeitliche segnete. Aber nicht nur das das kleine Hündchen auf seinem Arm kennt die Wahrheit …

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16. Minute

Holly Martins befindet sich unversehens in der Noir-typischen Rolle des Detektivs. Und jeder Zeuge, mit dem er spricht, scheint etwas zu verheimlichen. Auch ein Fingerzeig auf den Zustand der realen damaligen Gesellschaft, in der viele eine nationalsozialistische Vergangenheit auf dem Kerbholz hatten und Vertuschungen zum Alltag gehörten – während das Misstrauen der Besatzungsmächte auf der anderen Seite selbst klandestine Strukturen bildete.

17. Minute

Cherchez la femme fatale … im Josefstädter Theater. Natürlich ist die aufreizende Dame von der Beerdigung Schauspielerin. Jedes gutes Genre kennt den Wink mit dem Zaunpfahl – und im Film noir geht es für die handelnden Figuren eben darum, den anderen etwas vorzumachen. Man darf hier niemandem vertrauen.

18. Minute

Im Theater zeigt Wien auch noch sein gepudertes Gesicht. Perücken, Masken, Fächer und ein Zuschauerraum voller potenzieller Feinde … Aber Holly findet, was er sucht. Beziehungsweise, wen er sucht …

19. Minute

Kein Whisky für Holly diesmal. Er hat in den paar Minütchen Vienna-Lifestyle seine Lektion also schon gelernt. Lieber bleibt er beim Plausch mit Anna Schmidt in der Garderobe beim Tee. Wird er nun endlich ein Stück klüger, was die Inszenierung angeht, die Wien ihm seit seiner Ankunft bietet? Erstaunlich übrigens, was die Leute damals so alles auf die Bühne warfen.

20. Minute

"Ich möchte mit ihnen über Harry Lime sprechen". Irgendwie wird man das Gefühl nicht los, dass Holly Martins so eine Ahnung hat, dass Harry gar nicht tot ist, obwohl er sich mit seinem Anliegen im Kreis dreht. Aus diesem Kreis wird bald ein Strudel, und der Sog der Handlung zieht uns unweigerlich in die Tiefe.
Der teuflisch gute Auftritt von Orson Welles lässt noch auf sich warten …

WF

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