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Der Prozess: Ein Albtraum vor dem Schlaf

1962 wagte sich Orson Welles an die Verfilmung von "Der Prozess" – dem Meisterwerk von Franz Kafka. Nun wurde der Film aufwendig in 4K restauriert. Wir haben uns diesen satirischen, surrealen Albtraum vor dem Schlafengehen angeschaut. (K)eine gute Idee.

04. Dezember 2022

Es gibt viele Filme im ARTHAUS-Sortiment, die man am besten spät am Abend anschaltet. Man dunkelt das Wohnzimmer ab, lässt nur das Licht des Fernsehers zu, hat vielleicht schon einmal kurz gedöst bei den Spätnachrichten und ist nun bereit für eine außergewöhnliche Film-Erfahrung. Wie hier beschrieben war das Setting, als der Autor dieser Zeilen vor einigen Tagen die restaurierte Fassung von Der Prozess schaute. Wir möchten Sie einladen, es ihm gleichzutun – auf eigene Gefahr.

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Orson Welles Kafka-Verfilmung aus dem Jahr 1962 wirkt und funktioniert nämlich wie ein faszinierender Alptraum. Die Kulissen wirken seltsam entrückt, die Dialoge driften aus vertrauten Gefilden in eine Welt, die nach anderen Regeln zu funktionieren scheint und die Handlung treibt den armen Josef K. gnadenlos voran, immer tiefer in die bürokratische und zugleich willkürliche Welt seines Prozesses hinein. Von diesem erfährt er im eigenen Schlafzimmer, als plötzlich die Staatsgewalt im Raume steht – und sich mit einer Selbstverständlichkeit darin bewegt, die nur in autoritären Regimen möglich ist. "Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." So beginnt bekanntlich die Odyssee des Josef K. im Roman.

"Der Prozess" erschien zuerst im Jahr 1925 und wurde von vielen als Allegorie auf die Bürokratisierung der europäischen Gesellschaft gelesen – was ein wenig zu kurz greift, denn Kafka exerziert in diesem Buch, wie auch in "Das Schloss" und die "Strafkolonie", ebenso die Gefahren, wenn sich Recht und Staatsgewalt in Strukturen bilden, die undurchschaubar sind und den Menschen nicht mehr als Individuum begreifen.

Josef K. an seinem Arbeitsplatz. Viele Kulissen wirken wie entrückte Schauplätze zwischen Traum und Realität. © Kinowelt GmbH

Josef K. an seinem Arbeitsplatz. Viele Kulissen wirken wie entrückte Schauplätze zwischen Traum und Realität. © Kinowelt GmbH

Gedreht mit einem eher moderaten Budget in Frankreich, Italien und dem damaligen Jugoslawien, versammelte der Macher von Citizen Kane einen ebenso namhaften wie faszinierenden Cast. Anthony Perkins spielt den zugleich gewissenhaften und zunehmend renitenten Josef K. mit einer ganz besonderen Energie. Jeanne Moreau spielt Marika Bürstner, Romy Schneider K.s Affäre Leni, die undurchsichtige Assistentin des schwer kranken Rechtsanwalts Hastler – den wiederum Welles selbst spielt. Welles spricht außerdem in der englischen Fassung insgesamt zehn weitere Rollen. Eine Tatsache, die sich einem erst langsam erschließt und die albtraumhafte, surreale Stimmung immens verstärkt.

Als Orson Welles Der Prozess 1962 in die Kinos brachte, hatte Kafkas Roman schon lange Kultstatus. Viele sahen es als Sakrileg, diese Geschichte zu verfilmen. Eine Kritik aus dem Jahr 1963 traf die Sachlage sehr schön, in dem sie feststellte: "Kafka hat durch diese Umwandlung nichts gewonnen, und seine Leser sind zu Recht enttäuscht. Das Kino ist jedoch um einen großen Film reicher geworden. Wer will sich also beklagen?" Weise Worte.

Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. © Kinowelt GmbH

Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne, dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet. © Kinowelt GmbH

In einem BBC-Interview mit Huw Wheldon sagte Orson Welles auf die Frage, ob er Skrupel gehabt habe, ein Meisterwerk in Teilen zu verändern: "Ganz und gar nicht, denn der Film ist ein ganz anderes Medium. Der Film sollte keine vollständig bebilderte, sprechende, sich bewegende Version eines gedruckten Werks sein, sondern er sollte er selbst sein, eine Sache für sich. Auf diese Weise benutzt er einen Roman auf die gleiche Weise, wie ein Dramatiker einen Roman benutzen könnte – als Ausgangspunkt, von dem aus er ein völlig neues Werk schafft. Also nein, ich habe keine Bedenken, ein Buch zu verändern. Wenn man das Filmemachen ernst nimmt, muss man bedenken, dass Filme keine Illustration oder Interpretation eines Werks sind, sondern genauso wertvoll wie das Original." Sein Der Prozess sei "ein Film, der von dem Buch inspiriert ist, in dem Kafka mein Mitarbeiter und Partner ist. Das klingt vielleicht etwas hochtrabend, aber ich fürchte, es bleibt ein Welles-Film. Obwohl ich versucht habe, dem, was ich für den Geist Kafkas halte, treu zu bleiben, wurde der Roman in den frühen Zwanzigern geschrieben, und wir schreiben jetzt das Jahr 1962. Wir haben den Film 1962 gedreht, und ich habe versucht, ihn zu meinem Film zu machen, weil ich glaube, dass er mehr Gültigkeit hat, wenn er von mir ist."

Der Prozess ist dabei – als Film wie als Buch – ein Kunstwerk, das weit über die jeweiligen Entstehungsjahre hinauswirkt. Wer ihn dieser Tage zum Beispiel unmittelbar nach den Spätnachrichten schaut, in denen man von willkürlichen Verhaftungen im Iran, Prozessen in Russland und harten Lockdowns in China hört, sieht ganz moderne Alpträume, deren Ursprung in jenen Gewalten und Systemen liegt, die Kafka hier auf so surreale wie eindrückliche Weise beschrieben hat. Dementsprechend sollte man diesen Text mit einem Warnhinweis beenden: Nehmen Sie sich für den nächsten Tag etwas Schönes vor – denn Sie werden unruhig schlafen.

Der Prozess von Orson Welles ist aufwendig in 4K restauriert als 60th Anniversary Edition auf 4K UHD, Blu-ray und DVD erhältlich.

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