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Meine geniale Freundin: Elena Ferrantes gute Wahl

Die geheimnisvolle Autorin vertraute die Serien-Adaption ihres Bestsellers überraschend einem Mann an. Und Regisseur Saverio Constanzo erzählt mitreißend von der Freundschaft zwischen Elena und Lila.

Filmgeschichten 11. Juli 2019

Man weiß nicht so recht, ob man Saverio Costanzo beneiden oder bedauern soll. So ganz sicher ist er da selbst nicht. Als er zum Serienstart von Meine geniale Freundin eine Reihe von Interviews gab, sagte er: "Ich versuche noch immer die Frage zu beantworten: 'Warum ich?' Aber das kann ich nicht – weil ich nicht Elena Ferrante bin. Ich habe sie nicht gefragt, weil ich Angst hatte, ihr zu nahe zu kommen."

An dieser Stelle muss man wissen: Elena Ferrante ist ein Mysterium. Und das Pseudonym einer der erfolgreichsten Schrifsteller*innen der letzten Jahre. Was vor allem an ihrer "Neapolitanischen Saga" liegt, die mit Meine geniale Freundin ihren Anfang nahm. Wobei Ferrante darauf besteht, dass es keine "Saga" sondern ein Roman in vier Teilen sei. Der wirtschaftliche Erfolg, der in diesem recht seltenen Fall auch mit hymnischen Kritiken einhergeht, ist immens: Die Bände wurden mittlerweile über fünf Millionen mal verkauft und in 40 Sprachen übersetzt. Seit der Übersetzung ins Englische und Deutsche spricht man gar vom "Ferrante-Fieber", das ihre Leserschaft ergriffen hat. Im Mittelpunkt der Geschichte steht eine besonderen Freundschaft zweier Mädchen, die in Neapel in ärmlichen Verhältnissen aufwachsen. Elena – oder oft Lenù genannt - ist blond, beobachtend, intelligent und oft seltsam antriebslos. Lila ist dunkel, feurig, stur – sie ist die "geniale" Freundin, der alles wie beiläufig zu gelingen scheint. Die Geschichte wird aus der Perspektive Elenas erzählt und man merkt schnell in der Geschichte, der Sprache, den Zärtlichkeiten und Bosheiten, dass diese Freundschaft auch von Ehrgeiz, Neid und einer ungesunden Portion Bewunderung durchsetzt ist.

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Anweisungen aus der Mailbox

Saverio Costanzo stand im permanenten Kontakt mit Ferrante, die nur schreibend kommuniziert. Von ihm stammen die ersten Drehbücher für die acht Folgen, die wie der erste Band die Kindheit und den Beginn der Jugend von Elena und Lila erzählen. Ferrante markierte und kommentierte Dialogzeilen, die ihr unpassend erschienen. Und Costanzo musste mit seinem Schreibteam einige Dialoge erdenken, da Ferrantes Erzählen oft ohne dezidiert ausformulierte Dialoge arbeitet. "Sie schrieb Dinge wie: 'Dieser Dialog ist lächerlich. So würde sie niemals reden.'", erzählte Costanzo dem Magazin der New York Times. In anderen Momenten half sie ihm, bei den Produzenten Druck zu machen. Als Costanzo die finale Hochzeitsszene in der achten Folge streichen wollte, weil das Budget und auch der Zeitplan schon überrissen waren, sprang sie ihm in der Kommunikation mit den Produzenten zur Seite und nutzte die Macht ihres Einflusses. "Sie ist sehr stark", meint Costanzo. "Ich mag das."

Ludovica Nasti als junge Lila und Elisa Del Genio als junge Elena © PHOTO BY EDUARDO CASTALDO � WILDSIDE/UMEDIA 2018

Ludovica Nasti als junge Lila und Elisa Del Genio als junge Elena © PHOTO BY EDUARDO CASTALDO � WILDSIDE/UMEDIA 2018

Ferrantes Zweifel

Die Geschichte von Saverio Costanzo – dessen Film Hungry Hearts mit Adam Driver wir an dieser Stelle wärmstens empfehlen möchten – und Elena Ferrante begann jedoch gut zehn Jahre vor dieser Zusammenarbeit. Schon 2007 kontaktierte Costanzo die Herausgeber Ferrantes, weil er die 2006 erschienene Novelle "Die Frau im Dunkeln" von ihr verfilmen wollte. Zur Überraschung aller erlaubte Ferrante ihm, innerhalb von sechs Monaten eine Filmadaption zu konzipieren. Costanzo scheiterte an "diesem sehr dünnen, sehr präzisen, sehr gefährlichen Buch" und gestand ihr seine Niederlage. Er gab die Rechte wieder zurück. "Ich war noch ein Anfänger", sagte Costanzo der New York Times. Bis 2016 hörte er nichts von ihr, bis ihr italienischer Verlag anrief und ihm mitteilte, er sei einer von wenigen Regisseuren, die Ferrante für die TV-Verfilmung vorgeschlagen hatte. Wenige Wochen später kam das konkrete Angebot. Costanzo zögerte erst. Er hatte tiefen Respekt vor der einzigartigen Schreibkunst Ferrantes und vor ihren zahlreichen, oft weiblichen Fans, die überaus kritisch auf seine Arbeit schauen würden. Und obwohl Costanzo bewiesen hatte, dass er starke weibliche Hauptrollen erschaffen konnte, würde auch die Wahl eines Mannes für Unmut sorgen. Trotzdem wusste er: Dieses Angebot konnte er nicht ausschlagen.

Kriminalität, Armut und patriarchale Strukturen prägen das Leben in den Straßen Neapels. © PHOTO BY EDUARDO CASTALDO � WILDSIDE/UMEDIA 2018

Kriminalität, Armut und patriarchale Strukturen prägen das Leben in den Straßen Neapels. © PHOTO BY EDUARDO CASTALDO � WILDSIDE/UMEDIA 2018

Wie so oft im Umgang mit Elena Ferrante neigt man schnell zu Kaffeesatzleserei oder zur Westentaschenpsychologie – aber man könnte durchaus vermuten, dass sie Costanzos Hadern mit ihrer Novelle damals schätzte. Oder vielmehr: sein Eingeständnis, keinen Zugang zu finden. Denn sie selbst schrieb in ihrer Kolumne für den britischen Guardian über die Verfilmung: "Ich wollte oft sagen: 'Lasst es bleiben!'" Ihre Erklärung dazu ist faszinierend ehrlich: "Mein erster Eindruck bei einer Verfilmung ist immer traumatisch. Die Drehbuchschreiberinnen und -schreiber reißen meinem Buch den literarischen Schutzmantel vom Leib. Ein schrecklicher Moment: Ich habe Jahre an diesem Text gearbeitet und jetzt wird alles plötzlich auf das Wesentliche eingedampft. […] Ein Geschehnis, das ich seitenweise beschrieben haben, wird zu einer bloßen Handlungsanweisung. […] So reduziert wirkt der Roman plötzlich wie ein billiger literarischer Zaubertrick. Die Schreibende ist beschämt und fühlt sich wie eine Hochstaplerin, weil ihre Geschichte im Kern banal ist." Aber Ferrante beschreibt in ihrer Kolumne auch die Erkenntnis, die jeder Literaturverfilmung zugrunde liegt: Das Buch wird sich immer selbst genügen, wird immer ihr Buch bleiben, wird immer die für sie bestmögliche Erzählung einer Geschichte sein, die sie erzählen wollte – und jede Serie, jeder Film kann nur eine mögliche Interpretation dieser Geschichte sein.

Lila und Elena mit Freundin bei einem Feuerwerk © PHOTO BY EDUARDO CASTALDO � WILDSIDE/UMEDIA 2018

Lila und Elena mit Freundin bei einem Feuerwerk © PHOTO BY EDUARDO CASTALDO � WILDSIDE/UMEDIA 2018

Die "Ferrante Vier"

So viel sei an dieser Stelle verraten: Die acht Folgen von Meine geniale Freundin sind sehr stimmige, faszinierende, dem Original nahestehende Interpretationen der Geschichte von Elena und Lila. Die Kulisse des Neapels der 40er und 50er Jahre wurde in ihrer verschranzten Schönheit nachgebaut, ohne die Ecken ärmlicher Tristesse zu gut auszuleuchten. Die schwebende Stimmung des Buches - das Taumeln zwischen Liebe und Hass, zwischen Momenten der Nähe und der unüberwindbaren gesellschaftlichen Realitäten, zwischen Gemeinschaft und brutalen Auseinandersetzungen – all das wird hier in der richtigen Bildsprache ebenso überzeugend erzählt.

Trotzdem ist es vor allem den vier Hauptdarstellerinnen zu verdanken, dass man Elena und Lila von den ersten Szenen an verfällt. Die "Ferrante Vier", wie die Presse sie nennen, sind die 12jährige Ludovica Nasti und die 15jährige Gaia Girace als Lila und die elfjährige Elisa del Genio sowie die 16jährige Margherita Mazzucco als Elena. Ihre Blicke, ihr Stirnrunzeln, ihr Gang – manchmal wirkt all das, als hätte man Ferrantes Beschreibungen eins zu eins vom Buch ins Casting-Briefing umgeschrieben. Der Weg zu diesem Cast war jedoch ein schwieriger, denn Saverio Costanzo und Ferrante selbst wollten die Hauptrollen mit Mädchen besetzen, die aus der Region stammen, in der die Serie spielt. In acht Monaten castete man rund 9.000 Kinder und junge Frauen. "Es war hart", gestand Costanzo bei einer frühen Pressekonferenz. "Das Verrückter daran ist, dass diese vier am Ende auch die einzige Option waren, die wir hatten." Nur eine der Vier hatte bis zum Drehbeginn vor einer Kamera gestanden.

Elena in den Straßen ihres Viertels: dem Rione in Neapel © PHOTO BY EDUARDO CASTALDO � WILDSIDE/UMEDIA 2018

Elena in den Straßen ihres Viertels: dem Rione in Neapel © PHOTO BY EDUARDO CASTALDO � WILDSIDE/UMEDIA 2018

Kann ein Mann die Geschichte von Lila und Elena wirklich erzählen?

Bleibt am Ende die Frage, die wohl jede und jeder für sich beantworten muss: Kann sich ein Mann in diese Freundschaft, diese Geschichte, diese Leben hineindenken? Einige Kritikerinnen verneinen das. Julie Kosin vom renommierten Harper's Bazaar zum Beispiel. Sie schrieb: "Als Mann ist es unmöglich, sich mit Lilas und Lenùs Kämpfen zu identifizieren." Jennifer Schuur wiederum, ausführende Produzentin bei HBO, zeigte sich anfangs "überrascht" von der Wahl Ferrantes. "Auf den ersten Blick würde man nicht denken, dass ein Mann all die Nuancen von Ferrantes Geschichte verstehen würde." Sie habe jedoch gewusst, dass Costanzo sehr vorsichtig mit dem Geschenk umgehen würde, dass man ihm durch diesen Job gegeben hatte.

Costanzo selbst stellte schon im ersten offiziellen Statement klar, wie er die Sache sieht: "Wir alle können uns mit Lila und Elena und ihrem Wunsch sich zu emanzipieren identifizieren." Er sehe den Fokus von Ferrantes Roman auch nicht zwangsläufig nur auf feministischen Themen. "Es geht nicht nur darum. Was ich an Ferrante mag ist, dass sie immer gefährlich bleibt. Vielleicht sind die Hauptcharaktere weiblich, weil sie eine Frau ist, aber für mich liegt der Fokus von Meine geniale Freundin auf Bildung. Emanzipation bedeutet bei ihnen, auf dem Fundament einer gefestigten weiblichen Seele mit Hilfe von Bildung ein noch stärkeres Bewusstsein zu erlangen. Aber es gibt auch männliche Charaktere in der Geschichte, die sich auf die gleiche Weise befreien können."

Die Wahrheit liegt bei all dem wohl irgendwo in der Mitte – und trotzdem werden diese acht Folgen in den staubigen Straßen Neapels den Wunsch wecken, auch für die übrigen vier Bücher die passende Bildsprache und die passenden Gesichter zu finden.

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