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Tess: Mehr als nur ein Stein des Anstoßes

1979 verfilmte Roman Polanski Sharon Tates Lieblingsbuch "Tess". Thomas Hardys Geschichte über den Leidensweg einer jungen Frau galt im 19. Jahrhundert als anstößiger Bestseller.

Filmgeschichten/Drehmomente 28. August 2019

Der Roman "Tess" des englischen Schriftstellers Thomas Hardy erschien im Jahr 1891 – und war damals eine kalkulierte Provokation. Schließlich geht es in der Geschichte um eine junge Frau, die ein uneheliches Kind zur Welt bringt und dann auch noch wegen eines Kapitalverbrechens verfolgt wird. Da klang der ursprüngliche Untertitel "Eine reine Frau" nicht gerade süß in den Ohren der Sittenwächter der viktorianischen Gesellschaft. Im Nachwort der deutschen Ausgabe wird erklärt, mit welchen Hürden selbst ein angesehener Autor wie Hardy in jener Epoche zu kämpfen hatte. "Tess" war nämlich als Fortsetzungsgeschichte in einer Literaturzeitschrift erschienen, wobei Änderungen angemahnt wurden: "Die Szene, in der Angel Tess und die drei anderen Melkerinnen auf ihrem Weg in die Kirche durch eine große Pfütze trägt, erschien dem Herausgeber der Zeitschrift zu gewagt. Schicklicher wäre es, gab er zu bedenken, wenn Angel die Frauen nicht in seinen Armen, sondern mit Hilfe einer Schubkarre ans Ziel brächte."

Tess sucht ihren Platz in der Gesellschaft © 1979 PATHE PRODUCTION - TIMOTHY BURRILL PRODUCTIONS LIMITED

Tess sucht ihren Platz in der Gesellschaft © 1979 PATHE PRODUCTION - TIMOTHY BURRILL PRODUCTIONS LIMITED

Der Roman war allerdings ein großer Erfolg für Hardy, er wurde quasi in Schubkarren ausgeliefert. Die vielen Leser*innen in Großbritannien und in den USA machten den literarischen Skandal zum Bestseller. Vor allem die junge weibliche Leserschaft konnte nachvollziehen, in welche Bredouille die Heldin Tess ohne eigenes Verschulden geraten war. Hardy selbst rechtfertigte die Anstößigkeit des Buches so: "Wenn aus der Wahrheit ein Anstoß hervorgeht, dann ist es besser, daß der Anstoß zutage trete, als daß die Wahrheit verborgen bleibe." Ein flammendes Plädoyer für die Wahrhaftigkeit der Kunst. Das spätere Schicksal wollte es so, dass Roman Polanskis Ehefrau Sharon Tate Hardys Buch in den 1960er-Jahren zu ihrer Lieblingslektüre zählte und es ihrem Gatten wärmstens zur Verfilmung empfahl. Polanski folgte ihrem Rat, allerdings drehte er Tess erst 1979, zehn Jahre nach Sharon Tates Tod.

Es war einmal in Hollywood

Im August 2019 jährt sich der Tag von Tates Ermordung zum fünfzigsten Mal. Hochschwanger wurde sie von Mitgliedern der "Family" des Musikers, Kleinkriminellen und "Gurus" Charles Manson in Los Angeles umgebracht. Ein bestialisches Verbrechen – und eine tragische Begebenheit mehr in der bewegten und nicht immer ruhmreichen Biografie Polanskis. Quentin Tarantinos Once Upon A Time In Hollywood enthält nicht nur eine Szene, in der Sharon Tate (Margot Robbie) den Roman "Tess" ersteht – und Tarantino gelingt auch nicht einfach eine Hommage an den noch jungen und so vielversprechenden Star und dessen Träume. Once Upon A Time In Hollywood ist trotz des blutigen Finales ein echtes Märchen, das die Geschichte umschreibt und Sharon Tate unsterblich macht. Für Roman Polanksi konnte es in dieser Beziehung kein Happyend mehr geben, aber verdrängen konnte er die Vergangenheit auch nicht. Als Hauptdarstellerin seiner Tess-Adaption, die er aus den schon genannten Gründen Sharon Tate widmete, wählte Polanski die damals 18-jährige Nastassja Kinski. Die Handlung des Romans, an die er sich recht werkgetreu hält, will es so, dass Tess von ihren Eltern zu angeblichen Verwandten geschickt wird. Der trunksüchtige Vater hat nämlich gerade erfahren, dass er kein gewöhnlicher Derbyfield, sondern ein adeliger d`Urberville sein soll. Ob das stimmt, erfährt man nie, aber die neue Verwandtschaft ist auf jeden Fall nicht ganz koscher. In den Fängen dieses zwielichtigen Zweigs der Familie wird Tess zum gefallenen Engel.

Die 18-jährige Nastassja Kinski in der Hauptrolle

Die 18-jährige Nastassja Kinski in der Hauptrolle

Polanski lässt sich viel Zeit beim Erzählen der Geschichte – das gilt nicht nur für die oben bereits erwähnte Szene, in der Angel die jungen Damen, die unterwegs zur Sonntagsmesse sind, eine nach der anderen übers Wasser trägt. Die Kamera umgarnt Tess, die als Figur gänzlich in der historischen Zeit aufgeht. Die Kostüme stimmen aufs Prächtigste und die gesellschaftliche Verhältnisse scheinen vollkommen akkurat dargestellt – und doch wirkt Tess wie eine zeitlose, fast schon heilige Erscheinung. Kinskis Tess-Verkörperung. Die Landschaftsaufnahmen. Das ganze filmische Handwerk. Eine Augenweide.

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#metoo im 19. Jahrhundert?

Aber die Handlung könnte bei aller bedächtigen Erzählweise kaum dramatischer und die echten Hintergründe schwerlich komplexer sein: Im Mittelpunkt von Tess' Lebensgeschichte steht die Vergewaltigung durch Alec D`Urberville und die anschließende Schwangerschaft. Derart missbraucht (und in den Augen der Gesellschaft befleckt), wird sie nie mehr glücklich werden. Beim Lesen des Romans hat man mitunter das Gefühl, Thomas Hardy habe ihn unter dem Eindruck einer damaligen #metoo-Debatte verfasst. Polanski könnte sich letztlich auch zur Verfilmung des exemplarischen Leidenswegs dieser jungen Frau in einer von Männern dominierten Welt entschlossen haben, weil er nach der realen Tragödie um Sharon Tate und ihr ungeborenes Baby nicht mehr an Happyends glaubte – weder im Leben noch im Film –, aber genauso wenig hinnehmen wollte, dass das Opfer eines Verbrechens bis in alle Ewigkeit in der Opferrolle gefangen bleiben muss. Das hätte er dann mit Tarantino gemeinsam.

Die Verarbeitung der eigenen Schuld, die Polanski in einem anderen Fall auf sich lud, dürfte jedoch ebenfalls eine Rolle spielen – auszuschließen ist es nicht, und es bleibt eine Frage der Perspektive, ob es ihm eher um Reinwaschung oder Selbstanklage ging. Einer Verantwortung im juristischen Sinne für seine Tat hat Roman Polanski sich nie gestellt. Die Dreharbeiten zu Tess fanden in Frankreich statt. Kurz zuvor war Polanski vor dem Prozess wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen aus Los Angeles geflüchtet. In die USA kann er deswegen bis heute nicht einreisen, und auch in Europa ist er seither nicht überall und von jeder und jedem gern gesehen. Gerade sorgt seine Einladung zum Filmfest in Venedig für hitzige Diskussionen. Er ist durch eigenes Verschulden und nicht durch seine Kunst selbst zum Stein des Anstoßes geworden. Das ist die Wahrheit. Sein Opfer Samantha Geimer schilderte ihre Sicht der Dinge derweil in der Autobiografie "The Girl: Mein Leben im Schatten von Roman Polanski".

WF

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