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Source Code: Und alle acht Minuten explodiert das Murmeltier

Stirb mehrfach: Duncan Jones' philosophischer Action-Thriller erscheint jetzt auch als 4K-Ultra HD-Limited Collector's Edition. Ein Auszug aus dem Booklet.

25. Mai 2024

Viele mögen sich erinnern, wie gespannt man dem "logischen" Finale der Fantasy-Serie Lost entgegensah, aufs Ende der letzten Staffel hin fieberte, das keine Fragen offenließe, wie es uns von den Showrunnern und J.J. Abrams versprochen worden war. Die immanente Logik eines Werks darf sich aber durchaus an der Logik der realen Welt reiben. Sie muss es in punkto Kommerzialität, nach den Gesetzen des Marktes, und sie darf es auch nach einem kreativen Verständnis: Die Schöpfung künstlicher Welten setzt eben eine gewisse künstlerische Freiheit voraus. Deswegen wäre es falsch, Duncan Jones‘ zweitem abendfüllenden Spielfilm Source Code (2011) vorzuwerfen, es mangele ihm nicht an "Logikfehlern". Man findet bestimmt welche. Aber schließlich hatte Jones 1.) nicht nur einen abendfüllenden, vielmehr einen mehrere Abende füllenden Spielfilm vor Augen, lange Diskussionen unter Filmnerds bis in die Morgenstunden über die philosophischen und moralischen Fragen, die sein Science-Fiction-Szenario aufwirft und 2.) geht es in Source Code sowohl um ein Gedankenexperiment als auch um die Liebe. Wie zur Hölle hätte der Filmemacher sich davor retten können, die Logik in dieser speziellen Gemengelage außer Kraft zu setzen? Ab einem gewissen Punkt erzählt sich eine solche Story eh wie von selbst. Mann trifft Frau im Zug. Auf den ersten Blick ist klar, was passiert. Und dann geschehen Dinge, die alles auf den Kopf stellen.

Zwei Fremde im Zug © Kinowelt

Zwei Fremde im Zug © Kinowelt

Das fremde Gesicht

Ihr Alltag folgt mitunter einem Hollywood-Drehbuch, außer dass jemand die Seite mit dem Happy End herausgerissen hat? Nun, einem Großteil des Publikums dürfte es nicht ungewöhnlich vorkommen, dass ein Mensch plötzlich mitten im falschen Film aufwacht. Es ist eine metaphorisch aufgeladene Situation aus dem wahren Leben, mit der Source Code beginnt, ganz banal, um nach und nach seine außergewöhnliche Wirkung zu entfalten. Die Frage, in welcher Realität wir uns befinden – erst mal zweitrangig. Klar scheint nur, dass der von Jake Gyllenhaal gespielte junge Mann Orientierungsprobleme hat. Jede Person, die schon mal am helllichten Tag weggenickt ist und in deren Hirn es nach kurzem Nickerchen irrlichterte, kennt die bangen Sekunden, die es braucht, um Körper und Geist, Raum und Zeit wieder in jenen Einklang zu bringen, den wir die Wirklichkeit nennen. Manchmal folgt ein böses Erwachen. Beispielsweise wenn man merkt, dass man einen wichtigen Termin verschlafen hat und sich nun in einer unangenehmen Lage wiederfindet. In der Klemme steckt offenbar auch der attraktive Typ: So scheint die gutaussehende junge Frau auf dem gegenüberliegenden Sitz, verkörpert von Michelle Monaghan, einen Wissensvorsprung zu haben, und wie sehr der sichtlich benommene Mann sich auch müht, nichts kann ihm auf die Sprünge helfen. Er weiß weder, wie er in den Zug gekommen ist, noch wer die Dame oder, weitaus schlimmer, wer er selbst ist. Das wird sich schnell ändern. Dieser Zug Richtung Chicago fliegt bald mitsamt Captain Colter Stevens und der ihm noch unbekannten Sitznachbarin Christina Warren in die Luft. Und nach kurzem Intermezzo geht der falsche Film für ihn und uns wieder von vorne los. Haben wir das nicht schon mal genauso, nur woanders erlebt? (Wir sollten hinzufügen, dass Captain Colter Stevens zumindest so viel weiß, dass das Gesicht im Spiegel nicht sein eigentliches Gesicht ist. Diese Erkenntnis ist wahrlich keine Kleinigkeit).

Uhr tickt, Bombe auch © Kinowelt

Uhr tickt, Bombe auch © Kinowelt

Zur Lage der Nation

Ja, wir kennen das. Duncan Jones variiert mit Source Code ein bekanntes Sujet. Aber er bindet mit dem Thema Zeitschleife – auf neuartige Weise und anders als manch andere Regisseur*innen vor ihm – mehrere Filmgenres zusammen: Unter anderem die Romantic Comedy in der Tradition von Und täglich grüßt das Murmeltier oder 50 First Dates, den Einzelkämpfer-rettet-die Welt-Actionfilm à la Stirb langsam (in diesem Falle wäre der Titel Stirb mehrfach durchaus nicht unzutreffend) und das Traumatisierter-Kriegsveteran-Drama, das seit Vietnam nicht aus der US-amerikanischen Kinokultur wegzudenken ist. Der Brite Duncan Jones – es dürfte allgemein bekannt sein, dass es sich um David Bowies 1971 geborenen Sohn Zowie handelt, der sich als Jugendlicher einen anderen Vornamen zulegte und unter Bowies bürgerlichem Nachnamen Filme dreht – hat im Jahr 2011 in den USA und der Dauerkrise des "War on Terror" einen Nerv getroffen. Dafür spricht der dortige Publikumserfolg von Source Code. Man kann sehr viel hineininterpretieren, wenn man möchte, und als Filmschauender ist man das den Filmschaffenden schließlich schuldig. Eine eigene Idee von dem zu entwickeln, was sich im Theater der 24 Bilder pro Sekunde dank ihrer Einfälle für uns abspielt. So wird der Afghanistan-Kämpfer Captain Colter Stevens in Source Code laut unserer Wahrnehmung nicht nur für ein streng geheimes Experiment des wissenschaftlichen-militärischen Komplexes missbraucht. Die Figur des Kriegsteilnehmers wird auch explizit für den Film in Anspruch genommen, der sich dieses wissenschaftlich-militärische Experiment und die damit zusammenhängende Story ausgedacht hat. In jenem Spiegelgeflecht muss der gespaltene und unter posttraumatischen Reflexionen einer ganzen Nation leidende Held sich erst mal finden. In seinem actionreichen aber nicht ohne emotionale Highlights ablaufenden Selbstfindungsprozess fallen das Persönliche, das Politische und das Phantastische zusammen. (Er spielt jemand anderen, erkennt im Spiegel nicht mal mehr das eigene Antlitz. Kann man die Metapher des Schauspielers in einer inszenierten Realität noch deutlicher herausstellen?)

Wie oft denn noch? © Kinowelt

Wie oft denn noch? © Kinowelt

Mit eigener Handschrift

Die doppelte "Ausbeutung" des Soldaten – als reales Kanonenfutter in Afghanistan und als Objekt für die pathetische Kriegsfilmmaschinerie der großen Filmstudios – oder auch seine Benutzung durch all jene, die wie Duncan Jones in etwas kleinerem Rahmen eher kritische Geschichten um ihn und den Einsatz seines Lebens herum stricken: Dieses Leitmotiv zieht sich offensichtlich durch Source Code. Duncan Jones hat es sich in vielerlei Hinsicht nicht leicht gemacht, reflektiert er auf der Metaebene doch das eigene künstlerische Tun im Verhältnis sowohl zur harten Wirklichkeit als auch zum Mainstream des US-Kulturbetriebs. Auch hat er mit Source Code kein weiteres Science-Fiction-Kammerspiel voller existenzieller Fragen produziert, wie sein Debüt Moon und der große Anklang, den es zwei Jahre zuvor gefunden hatte, nahelegte. Dennoch hat er inhaltlich fast nahtlos an Moon angeknüpft und damit eine wiedererkennbare Handschrift als Regisseur in Hollywood hinterlegt. Er hat den Faden aufgenommen, auf dem ihm der Balanceakt zwischen einem düsteren Zukunftsszenario und lustvoller Spekulation über die ambivalenten Möglichkeiten von Morgen nochmals gelang. Intelligentes Unterhaltungskino. Um die Ecke gedacht, gewitzt umgesetzt. Und das Ende erscheint sogar irgendwie logisch.

WF

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