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Animalia: Phantastische Menschwesen

Thomas Cailleys Fantasy-Drama erzählt eine berührende Geschichte über Anderssein und Unangepasstheit - jetzt im Kino!

12. Januar 2024

Der Mensch zwischen der Sehnsucht nach dem Naturzustand und der Forderung nach dem Wohlfahrtsstaat steckt in vielen Teilen der Welt in einer Gesellschaftsform, die nach neoliberalen Richtlinien organisiert ist. Ökologie wird längst ökonomisch gedacht, Sozialleistungen werden gekürzt, den Konzernen mehr Freiheiten eingeräumt. Deregulierung und
Selbstverantwortung heißen die Zauberworte dieser Politik, die einem Teenager allerdings mitunter ziemlich egal sein kann. Wenn der Körper anfängt sich zu verwandeln, die Hormone verrückt spielen und die Zukunft als Erwachsener genauso weit entfernt scheint wie die Vergangenheit als Kind, dann hat er einfach andere Probleme als Klimawandel oder Finanzkrisen.
In Frankreich gab es bekanntlich massenhaft Proteste gegen Sozialkürzungen, die Gelbwesten machten ordentlich Stunk. François ist einer, der Autoritäten wie die Regierung nicht so mir nichts dir nichts akzeptiert. Das deutet er an, indem der seinen pubertierenden Sohn erklärt, warum er ihm gehorchen solle. Weil er schließlich nicht "das System" sei.

Emile © Studiocanal

Emile © Studiocanal

François hadert offensichtlich mit der eigenen Bürgerlichkeit, und dennoch – oder gerade deshalb – wünscht er sich für seinen Sohn Normalität. Er will einen Jungen, der nicht aus dem Rahmen fällt. Das führt zu einer Vater-Sohn-Beziehung, die im Lauf von Animalia öfter mal wehtut. Denn Emile ist anders, und zwar nicht nur, weil er unter jenen Mutationen "leidet", die schon viele andere Menschen erfasst haben.
Ein unerklärliches Phänomen breitet sich aus. Es führt dazu, dass Menschen sich in wilde Kreaturen verwandeln. Diese Prozesse, das lernen wir schnell, vollziehen sich allmählich. Und anfangs wissen die Betroffenen nicht, zu welchem tierähnlichen Wesen sie sich entwickeln. Letztlich sind sie noch im Endstadium der Transformation fabelhafte Hybridgestalten, wie der Mythologie entsprungen. Auch Emiles Mutter ist eine solche Mutantin, das macht die Sache nicht einfacher. François vermisst seine Frau und für Emile ist es ein weiterer von vielen guten Gründen Trübsal zu blasen, an denen es jemandem seines Alters sowieso in der Regel nicht mangelt.

Emile und François © Studiocanal

Emile und François © Studiocanal

Regisseur Thomas Cailley erzählt in seinem wunderschönen Film Animalia, der klug wie anrührend Begriffe wie Queerness oder Coming-Of-Age auch für Leute illustriert, die noch glauben, dass sie nur in Uni-Seminaren existieren, im Grunde die simple Adoleszenz-Geschichte eines sensiblen 16-jähigen, der in der Auseinandersetzung mit seinem alleinerziehenden Vater neben den eigenen auch noch dessen innere Konflikte austragen muss.
Die beiden ziehen aufs Land, Emile kommt in eine neue Schule, verliebt sich in eine Autistin, die potenzielle Freundin ist fürsorglich, schlau, verständnisvoll, einfühlsam, cool. Aber alles geht schief, seit Emile feststellt, dass auch er infiziert ist und nach und nach zu einer Art Wolf mutiert. Sein eigenes Verlangen nicht auszufallen ist schon schwer auszuhalten, die Forderung des Vaters, es dürfe bloß keiner merken, dass er anders ist, wiegt noch weitaus schwerer. Und letztlich gibt es im Ort noch den notorischen Bully, dem die Veränderungen an Emiles Verhalten und Körper natürlich auffallen und der nichts übrig hat für Außenseiter.

Fix © Studiocanal

Fix © Studiocanal

Regisseur Cailley nimmt seine Figuren und seine Wesen ernst, so wie den vogelartigen Fix, der gerne fliegen lernen möchte. Mit ihm freundet Emile sich an, in ihrer Beziehung respektieren sie ihre Eigenarten und feiern ihre Gemeinsamkeiten. Ein Gesellschaftmodell im Kleinen, das in Animalia mehr als nur angedeutet wird. Der Film verzaubert durch sein großartiges Ensemble – Romain Duris, Adèle Exarchopoulos, Paul Kircher, Tom Mercier – die phantastische Maske, das immer nachvollziehbare Skript. Am Schluss erwartet das Publikum bei aller Härte (des Systems) noch eine famose Wendung. Ein Hoffnungsschimmer, ohne dass der Film dafür sentimental oder kitschig werden muss. Der Naturzustand ist natürlich auch keine Lösung. Aber es ist doch schon mal ein Anfang, wenn ein Vater sein Kind so liebt und lässt, wie es ist.

WF

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