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Baise-moi – Fick mich war schon als Roman wie ein Schuss ins Gesicht

Virginie Despentes Regie-Debüt Baise-moi aus dem Jahr 2000 wird nächste Woche Digital Remastered veröffentlicht. Ein Blick mit der Autorin auf die Romanvorlage, die schon 1994 eine wütende Provokation war.

31. August 2023

Eine Frau namens Nadine sitzt im Schneidersitz vor einem Bildschirm, der an einen Videorekorder angeschlossen ist. Es läuft ein deutscher Film, ein Genre, das man nur unter der Ladentheke erwerben kann. Eine "dicke Blondine" ist "kopfüber an ein Rad gefesselt. Ein Typ mit Brille besorgt ihr es kräftig mit einem Peitschenstil. Er nennt sie fette geile Hündin und sie gluckst." Wenig später faucht eine Frauenstimme aus dem Off: "Und jetzt piss, was das Zeug hält, du Schlampe!"

So beginnt "Baise-moi – Fick mich", der Debütroman von Virginie Despentes, der in der kommenden Woche in einer Neuauflage beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erscheint. Despentes war Mitte zwanzig, als das Buch in Frankreich veröffentlicht wurde. Wie auch im Film wird man gleich zu Beginn Zeuge einer brutalen Vergewaltigung. Despentes selbst wurde als 17jährige vergewaltigt und fand ihren eigenen Weg, das Trauma zu bewältigen – unter anderem, in dem sie einige Jahre als Prosituierte arbeitete. Wer ihren feministischen Klassiker "King Kong Theorie" gelesen hat, kennt diesen Teil ihrer Biografie. In einem per Mail geführten Interview mit uns erklärt Despentes: "'Baise-Moi' hat sicherlich mit der Tatsache zu tun, dass ich vergewaltigt wurde – aber ich habe das Gefühl, dass es mehr mit meiner Erfahrung als junge Frau zu tun hat, die arbeiten musste, um ihre Rechnungen zu bezahlen, und keine Arbeit fand, die sie länger als drei Monate ausgehalten hätte. Der Faktor Geld ist für beide Figuren sehr wichtig."

Empathie für die Rache

Die beiden Figuren sind Nadine und Manu. Sie sind Opfer sexualisierter Gewalt, leben am Rand der Gesellschaft, umgeben von Männern, die sie zur Prostitution zwingen, misshandeln, emotional erpressen. Manu wird von mehreren Männern gleichzeitig vergewaltigt. Als sie bei ihrem Bruder Hilfe sucht, meint dieser, sie sei selbst schuld daran. Manu erschießt ihn und ergreift die Flucht. Parallel dazu erwürgt Nadine ihre spießige Mitbewohnerin nach einem Streit. Kurz darauf wird sie Zeuge, wie ihr bester Freund von Drogendealern erschossen wird. Auch sie flüchtet – und trifft auf Manu. Ab da beginnt eine Art Roadtrip, auf dem Nadine und Manu nach und nach jegliche Hemmungen verlieren. Sie töten zahlreiche Männer auf brutale Weise, um ihren Hass zu kompensieren. Später, kurz vor dem Ende der Geschichte, erschießen sie fast jeden Menschen, der ihnen auf die Nerven geht. Selbst, wenn es schreiende Kinder auf einem Spielplatz sind.

Despentes erzählt Manus und Nadines Rachefeldzug in einer knallharten, oft geradezu cool wirkenden Sprache, die noch um einiges direkter knallt als ihr Tonfall in den zuletzt sehr erfolgreichen Büchern der "Vernon Subutex"-Trilogie und dem aktuellen Beststeller "Liebes Arschloch." Vor allem letztgenannte Briefroman wurde in Deutschland geradezu hymnisch besprochen. Viele Kritiker:innen schrieben, sie seien positiv überrascht gewesen, dass Despentes tatsächlich Empathie für das sexistische, übergriffige "Arschloch" des Buches empfinde. Das Buch war für Despentes‘ Verhältnisse geradezu zärtlich. Deshalb fragten wir sie auch, wie es sich angefühlt habe, dass jetzt mit der Wiederveröffentlichung des Films der Fokus auf eines ihrer wütendsten Werke gelegt werde. Sie antwortete: "Ich habe als Schriftstellerin einen Hang zur Zärtlichkeit – man merkt, dass ich sehr viel Empathie für die Figuren in 'Baise-moi' empfinde. Und sie sind nicht gerade leicht zu lieben... 2023 ist ein Jahr der Unruhen in Frankreich – es ist ein Jahr der Wut und Verzweiflung in der Bevölkerung, und die Reaktion der Regierung auf die Unruhen ist spürbar arrogant, was zu noch mehr Frustration und Wut führt. Wenn ich an meinen ersten Roman denke, erinnere ich mich, wie hart es war, eine junge Frau aus der Arbeiterklasse zu sein, und wie wütend und verzweifelt ich mich fühlte. Und ich denke, dass es heute für die jungen Leute, die wir auf der Straße randalieren sehen, noch viel schwieriger ist – und ich erinnere mich, dass in manchen Situationen ein Wutausbruch die einzige Lösung zu sein scheint."

Kathy Acker als literarische Inspiration

Dieser literarische Wutausbruch wäre vermutlich so niemals entstanden, wenn Virginie Despentes nicht eine Schwester im Geiste entdeckt hätte. In einem französischen Fanzine hatte sie als junge Frau eine Kurzgeschichte der amerikanischen Autorin Kathy Acker entdeckt, die man hierzulande vor allem für ihre Romane "Great Expectations" und "Blood and Guts and High School" schätzt und die ebenfalls viele, vor allem männlichen Kritiker mit ihren Geschichten schockte. Despentes erinnert sich noch heute daran, wie sehr sie der erste Satz besagter Story beeindruckte. Er lautete: "I want you to fuck me i want you to fuck me twice." Despentes sagt: "Als ich verstand, dass die Autorin eine Frau war, war ich erstaunt – und dann war ich erstaunt, dass es mich erstaunte, denn: Warum nicht? Da wurde mir klar, wie sehr ich mich als Mädchen beobachtet gefühlt habe. Wie viele literarische Räume schienen deswegen verboten zu sein, aufgrund meines mir zugewiesenen Geschlechts außerhalb meiner Reichweite zu liegen. Ich suchte und las jedes Werk, das ich von Kathy Acker finden konnte – sie war bei dem interessantesten französischen Verleger der 80er Jahre: Christian Bourgois. Und ich habe nie die Kurzgeschichte gefunden, die mit den Worten 'i want you to fuck me i want you to fuck me twice' beginnt, vielleicht habe ich mir das auch nur ausgedacht – wie auch immer, ich habe Kathy Acker gelesen und ihre Arbeit hatte einen großen Einfluss auf mich als Leserin – und als Schriftstellerin."

Die Verfilmung ihres Romans ging Virginie Despentes Ende der 90er selbst an – zusammen mit der Autorin und Regisseurin Coralie Trinh Thi. Der Film Baise moi – Fick mich wird in dieser Woche noch einmal veröffentlicht. Das komplette Interview dazu finden Sie morgen auf unserer Website. Der Roman erscheint am 7. September Vernon Subutex nach den Romanen von Virginie Despentes, die wir komplett mit ihrer Lieblingsmusik füllen konnten.

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