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Alice im Wunderland: Eine andere Welt ist möglich

Ein Loblied auf Norman Z. McLeods unheimlich schöne und latent unheimliche Verfilmung von Lewis Carrolls Klassiker – und eine Galerie mit wundervollen Alice-Bucheditionen.

FilmgeschichtenGalerien 13. Dezember 2019

Der erste Spielfilm von Norman Z. McLeod war Die Marx Brothers auf hoher See. McLeod kannte sich demnach aus mit der Inszenierung des Absurden, als er 1933 für die Verfilmung von Lewis Carrolls legendären Kindergeschichten auf dem Regiestuhl Platz nahm. Seine Version von "Alice im Wunderland", das Carroll 1865 zunächst unter dem Titel "Alice`s Adventures under Ground" veröffentlicht hatte, um die Handlung sechs Jahre später durch "Through The Looking Glass, And What Alice Found There" zu ergänzen, geriet so eigenwillig, weil er sich das Bild der Spiegelwelt aus Carrolls Feder zu Herzen nahm. Hier wird es zur universellen Metapher für die Kinofassung eines bekannten Buches. Eine Spiegelung, in der es mehr zu entdecken gibt als im originalen Szenario. Stephen King, der sich des Öfteren, etwa in "Der dunkle Turm", auf die Abenteuer der kleinen Alice bezieht, sagte einmal in Anspielung auf die vielen Adaptionen seiner Short Storys und Romane: "Ein Film kann das Buch niemals kaputt machen, es steht weiter unversehrt im Regal." Von Zerstörung darf in diesem Fall sowieso keine Rede sein. McLeod schafft es, »Alice im Wunderland« weitere Dimensionen hinzuzufügen. Ein großes Kompliment für die wohlig-gruselige Interpretation von Figuren, die jeder kennt und liebt.

Unsere kleine Galerie beweist, dass es erwachsene Menschen gibt, die von "Alice im Wunderland" schon allein in Buchform nicht genug bekommen können. Am Beginn dieser Sammelleidenschaft steht vermutlich die Sehnsucht, einen Blick hinter den Spiegel statt bloß hinein zu werfen – und dem Pfad kindlicher Neugier zu folgen, um unter die Oberfläche der Wahrnehmung zu gelangen. Träumen muss erlaubt sein! In McLeods Film gibt es keine Schwester, die Alice vorliest, ihre Spinnerei von Grinsekatze, Herzkönigin, Humpty Dumpty, weißem Kaninchen und Teegesellschaft entwickelt sich in Alice’ Vorstellung gerade durch die Abwesenheit einer Vorleserin. Ach, das Leben kann so langweilig sein! Ihre Gouvernante ist nämlich jene Vernunft in Person, die laut einem Albumtitel der Band Tocotronic niemals siegen darf (von der Band der Hamburger Schule stammt auch die Erkenntnis: "Michael Ende hat mein Leben zerstört"). Und Alice ist nun mal ein intelligentes Mädchen mit lauter Flausen im Kopf. Wunderbar gespielt von Charlotte Henry, die sich beim Casting angeblich gegen 7000 Mitbewerberinnen durchsetzte.

Große Hollywood-Stars

Neben Charlotte Henry glänzen einige Hollywood-Größen wie Gary Cooper, W.C. Fields und Cary Grant in phantasievollen Kostümen und lebendigen Kulissen. McLeods Film funktioniert sowohl für die Kleinen als auch für die Großen, die im Herzen jung geblieben sind. Manch einer dürfte durch ihn die erste wahre psychedelische Erfahrung seines Lebens machen (andere fühlen sich vielleicht an Jefferson Airplanes »White Rabbit«-Cover erinnert). Dabei halten sich der Regisseur und sein Ensemble kongenial an die Prämisse von Carrolls Buch: Herrschende Logik ist bloß mit eigener Logik zu schlagen – und die Vorstellungskraft der Menge nur durch die individuelle Phantasie zu beflügeln. Folgen Sie diesem Reigen buntester Schwarzweißbilder voller sprechender Schachfiguren und zeternder Spielkarten und finden Sie sich in einer Welt wieder, die vor unerwarteten Ideen strotzt. Man möchte einen politischen Slogan zitieren, um die große Kunst in Worte zu fassen: Eine andere Welt ist möglich.

Der Sprung ins Unbekannte

Der Sprung ins Unbekannte

Carrolls Gedanken haben Millionen Herzen erobert und zahllose Künstler*innen inspiriert. Doch McLeods Alice im Wunderland sticht durch das Tempo der Erzählung, die Vielfalt der Eindrücke und die fieberhaft wachsenden Meta-Ebenen aus den gut 25 Verfilmungen seit 1903 heraus. Ein Meisterstück der Phantastik. Unvergesslich wie die berühmten Alice-Buchillustrationen des britischen Zeichners John Tenniel. Wie mag dem Autor das ursprünglich nur alles eingefallen sein? Na, kein Wunder eigentlich, dass Carroll während einer Bootsfahrt auf der Themse an einem verregneten Tag im englischen Sommer dazu inspiriert wurde, den Töchtern eines Oxforder Dekans seine unsterbliche Geschichte das erste Mal zu erzählen. Es handelt sich schließlich um eine Flucht aus der Wirklichkeit par excellence – um einen Brexit der anderen Art, wollte man noch mal die Politik bemühen. Für dessen adäquate Verfilmung wiederum wäre eine Wiedergeburt der Marx Brothers unerlässlich.

Wir danken Chiara Baluch für Einblicke in ihre Sammlung und für die Fotos

WF

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