Detailsuche

Bild zu Das delikate Vergnügen namens Delicatessen

Das delikate Vergnügen namens Delicatessen

Kannibalismus, kurzlebige Hausmeister, dystopische Mietshäuser, 50er-Jahre-Apokalypse und ein pechschwarz gefärbter Humor: Das Spielfilmdebüt von Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro ist auch heute noch ein großer Spaß, in dem man schon früh das erkennt, was später "Die fabelhafte Welt der Amélie" ausmachen sollte.

11. Oktober 2023

In einem Zeitungsinterview aus dem letzten Jahr erzählt Jean-Pierre Jeunet: "Wenn ich eine Masterclass für Filmstudenten gebe, frage ich, wer meine Filme gesehen hat. Bei meinen Delicatessen heben vielleicht zehn Leute ihre Hände, bei Amélie alle. Ein befreundeter Regisseur meinte, es sei ein Drama, wenn man so einen Riesenerfolg hat. Aber ich bitte Sie: Dass ich mit einem so persönlichen Film so viele Zuschauer erreichen konnte, ist doch ein Glücksfall. Wer will sich da beschweren!"

Diese kleine Hymne ist für genau diese zehn Leute – auf, dass es bald ein paar mehr werden. Denn Delicatessen aus dem Jahr 1991 ist bis heute ein geradezu delikates Vergnügen. Und das, obwohl dieser Film einem bisweilen den Appetit verdirbt. Zumindest den auf Fleisch – aber das hat ja eher was Gutes. Wie so viele besondere Kapitel in meiner Filmsozialisation entdeckte ich diese schwarze Komödie im Regal "Empfehlungen der Mitarbeiter" meiner damaligen Stamm-Videothek. Das hatte immer einen Hauch von Abenteuer für mich, entdeckte ich dort doch Filme wie Baise-moi (Fick mich!), Tromeo & Julia oder auch Mann beißt Hund. Bei Delicatessen warb man auf einem kleinen, handgeschriebenen Aufkleber damit, dass dies ein früher Film des Amélie-Regisseurs sei.

Delicatessen wirkte schon damals, als stamme der Film aus einer anderen, vergangen Zeit, die es nur in einem Paralleluniversum geben könnte. Was ich jederzeit auch über Amélie sagen und schreiben würde, selbst wenn der Humor dort nur manchmal schwarz, und alles andere ein wenig cremefarbener ist. Bei Delicatessen wirken alle Bilder leicht eingestaubt, grau und braun bestimmen das Szenario. Nach einer Weile glaubte ich auch immer einen leichten Orange-Stich zu erkennen, der mich an traumatische Filmerlebnisse wie The Day After erinnerte, den ich viel zu früh schon als Kind gesehen hatte. Das wundert nicht wirklich, denn auch die Welt in Delicatessen ist ziemlich vor die Hunde gegangen. Es gibt kaum noch Fleisch oder andere Nahrungsmittel, die gängige Währung ist Mais. Der reichste Mann des Films ist der Hausbesitzer Clapet (Jean-Claude Dreyfus), der im Erdgeschoss des Hauses, in dem nahezu der ganze Film spielt, eine Schlachterei betreibt. Er tötet, verarbeitet und portioniert in schöner Regelmäßigkeit jene Hausmeister, die er selbst wenige Wochen oder Tage zuvor eingestellt hat. Der arbeitslose Clown Louison (großartig wie immer: Dominique Pinon) ist so einer. Dumm nur, dass er wirklich sympathisch und hilfreich ist und sich dann auch noch die Tochter des Schlachters Julie (Marie-Laure Dougnac) in ihn verliebt. Das alles bringt das vorher so blutig geölte und eingespielte Leben im Haus gehörig durcheinander.

Video kann aufgrund der gewählten Cookie-Einstellungen nicht gezeigt werden.

Trotzdem greift diese Plot-Beschreibung viel zu kurz. Der Reiz des Films lag für mich immer daran, dass man in jeder Sekunde das Gefühl hat, Jean-Pierre Jeunet und Marc Caro sowie ihr gesamter Cast hätten einen Heidenspaß bei den Dreharbeiten hatten. Jeunet zeigt schon hier seine Liebe zu fiesen, sweeten Details und skurrilen Charakteren wie diese lebensmüde Dame, die jeden Tag eine neue Rube-Goldberg-Vorrichtung baut, mit der sie sich umbringen will – am Ende immer erfolglos. Während Caros und Jeunets zweiter Film Stadt der verlorenen Kinder wenige Jahre später inhaltlich ein wenig auseinanderfiel und krachend floppte, hält ihre detailverliebte, abgründige Fantasie dieses Story-Menü namens Delicatessen perfekt zusammen.

Sympathie-Punkte kriegen Caro und Jeunet von mir auch, weil sie sich früh gegen einen Hollywood-"Bullie" namens Harvey Weinstein stellten. Der habe für den amerikanischen Markt bei Jeunets späterem Film Die Karte meiner Träume massive Änderungen im Schnitt eingefordert. Dem Magazin IndieWire sagte Jeunet später: "Wissen Sie, wir hatten genau die gleiche Geschichte mit Delicatessen vor langer Zeit. Bei Amelie wollte Weinstein, dass ich den Film neu bearbeite, aber weil er bereits ein Erfolg war, beschloss er den Film in der gleichen Fassung wie in Europa zu veröffentlichen. Er wollte auch, dass Caro und ich Delicatessen neu schneiden, aber wir sagten: 'OK, wir haben eine andere Idee für eine für eine Änderung: Ihr schneidet unsere Namen aus dem Abspann heraus." So sei Delicatessen auch nicht geschnitten wurde, was zurfolge hatte, dass Weinstein ihn recht lieblos in die Kinos brachte." Was für Jeunet am Ende etwas Gutes hatte: "Delicatessen konnte nur auf Video ein so großer Erfolg werden, weil er im Kino sehr schlecht lief."

Vermutlich waren da aber auch all die heute ausgestorbenen Videotheken Schuld, die diesen seltsamen, wundervollen, makabren Film mit persönlichen Empfehlungen an ihre Stammkundschaft brachten …

DK

Dazu in unserem Magazin

Arthaus Stores

Social Media