Heute ist allen klar, dass Regisseur Mike Nichols 1967 Filmgeschichte schrieb, als sein unkonventionell erzähltes und gefilmtes, satirisches Drama Die Reifeprüfung in die Kinos kam. Der damals noch recht junge Regisseur bekam einen Oscar in der Königsklasse "Beste Regie", der Film entwickelte sich vor allem bei einem jungen Publikum zum Kassenrenner und die Kritiker der Zeit schrieben Zeilen wie diese von Will Jones, der in der "Minneapolis Tribune" jubelte: "Alle fragen sich, warum die Amerikaner keine Filme machen wie die Europäer, nicht wahr? Okay, Freunde, hier ist europäisches Filmemachen mitten im Herzen der amerikanischen Filmstadt. Hey, Schlesinger, Richardson, Antonioni, Truffaut ... darf der kleine Mikey Nichols mit eurer Clique spielen? Aber sicher doch!" Neben Arthur Penns Bonnie und Clyde aus dem gleichen Jahr und Dennis Hoppers Easy Rider, der 1969 Premiere feierte, gilt Die Reifeprüfung als eine der ersten Blüten des New Hollywood.
Wie so oft in der Filmgeschichte, sahen die Vorzeichen allerdings erst nicht danach aus. Der Produzent Lawrence Turman kaufte die Filmrechte an dem Debütroman von Charles Webb, "The Graduate", im Jahr 1963 und hatte von Anfang an Mike Nichols als Regie-Wunschkandidaten im Sinn. Eine mutige Wahl, denn Nichols war damals vor allem an der Seite von Elaine May als Comedy-Duo bekannt, sowie als Theaterregisseur – vor allem für Neil Simons Stück "Barefoot in the Park". Aber die Filmkarriere wartete schon: Elizabeth Taylor und Richard Burton freundeten sich mit ihm an und empfahlen Nichols als Regisseur einer Filmversion von Edward Albees "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?", bei der die beiden die Hauptrollen spielten. 1966 veröffentlicht, wurde der Film ein Hit – geliebt vom Publikum und von der Kritik. Turman hatte also einen guten Riecher.
Und trotzdem: Keines der etablieren Hollywood-Studios wollte Webbs Roman verfilmen. Turman sagte einmal: "Sie alle lasen das Buch und hassten es. Niemand dachte, es sei lustig." Joseph Levine sprang schließlich mit seiner unabhängigen Produktionsfirma Embassy Pictures ein, weil er ein Fan von Nichols‘ Arbeit am Theater und im Regiestuhl war – und weil er gehört hatte, dass Elisabeth Taylor für Wer hat Angst vor Virginia Woolf? ausdrücklich mit Nichols arbeiten wollte. Im Juli 1968, als Die Reifeprüfung ein Oscar-prämierten Kassenschlager war, der vom jungen Publikum geliebt wurde, sagte Levine über den Erfolg: "Es ist absolut unglaublich. Das lässt sich gar nicht beschreiben. Es ist wie eine Explosion, wie ein Dammbruch. Das Geschäft wächst und wächst und wächst. Wo immer wir den Film gespielt haben, egal bei welchem Wetter, ist er eine ausverkaufte Attraktion. Und die Leute kommen zwei- oder dreimal wieder, um ihn noch einmal zu sehen. So etwas habe ich in all den Jahren, in denen ich in diesem Geschäft tätig bin, noch nie gesehen."
Trotzdem bleibt der kommerzielle Erfolg erstaunlich. Die Geschichte über den College-Absolventen Benjamin Braddock, der eine Affäre mit der älteren Mrs. Robbinson – die Frau des Geschäftspartners seines Vaters – beginnt und sich später in deren Tochter verliebt, mag sich auf dem Papier als klassisches Liebesdrama lesen. Aber der Film ist für die damaligen Zeiten erstaunlich ambivalent, auf unterschwellige Weise satirisch und auf damals sehr ungewöhnliche Weise gefilmt. Außerdem war Dustin Hoffman eine mutige Wahl für die Rolle des Benjamin. Im Buch ist der Charakter ein hübscher, großer, blonder College-Schönling – durch Nichols und Hoffman wird aus ihm aber ein undurchsichtiger, antriebsloser, nicht gerade sympathischer Drifter und Außenseiter, der eher kleiner ist und seine "jewish good looks" unbewusst zur Schau stellt. Nichols erinnerte sich 2014, dass er Hoffmann vor allem zum Screen Test eingeladen, weil er ihn Off-Broadway in einem Theaterstück in der Rolle der "Tranvestiten-Gattin eines russischen Fischers" gesehen hatte.
Der Erfolg bei der jüngeren Kinogeneration setzt sich aus heutiger Sicht aus verschiedenen Faktoren zusammen. Zuerst lief Die Reifeprüfung eher mittelgut an: Die Kritiken waren nur in wenigen Fällen wirklich positiv und der Kinostart, wenige Tage vor Weihnachten im Jahr 1967, eher durchschnittlich. Aber dann erreichte der Film nach und nach die Student*innen – zuerst, weil sie gerade in den Semesterferien waren und die Idee mochten, während der College-Auszeit in ihre Welt zu blicken, dann weil die Produzenten den Film in die Universitäten brachten und eine ganze College-Tour auf die Beine stellten.
Aber auch die Stimmung des Films, die dezenten aber bösen Spitzen gegen den zuvor im Kino zelebrierten American Way of Life, trafen ihren Nerv. Viele junge Menschen fühlten sich schon damals nicht wohl in den Rollen, die vor allem die Eltern für sie vorgesehen hatten. Die in Die Reifeprüfung gespiegelte Gesellschaftsschicht wollte ihre Kinder als beruflich erfolgreiche Abziehbilder ihrer selbst – zumindest die Söhne. Den Frauen wiederum war die Rolle der Mutter und Hausfrau zugedacht, die einer schillernden Person wie Mrs. Robinson natürlich viel zu wenig ist. Es gibt viele eindrückliche Szenen in Die Reifeprüfung, die diese ach so heile und reiche Welt zerlegen – aber die niederschmetterndste ist sicher jene, in der Benjamin vor dem Sex mit Mrs. Robinson endlich mal ein Gespräch führen will. In dem dabei entbrennenden Streit kommt raus, dass sie eine junge, motivierte Kunststudentin war, die sich von ihrem Mann als Teenagrin aus Versehen beim Sex in einem Ford schwängern ließ – und ihrer Tochter Elaine zuliebe zuerst die Roller der Mutter und Ehefrau annahm. Ihre sexuelle Freiheit holt sie sich dann mit einer fast furchteinflößenden Entschlossenheit.
Aber auch Hofmans Benjamin traf einen Nerv. Er verweigert sich mit seiner Antriebslosigkeit den Erwartungen der Eltern und schwebt manchmal geradezu durch den Film – und das ohne zu Kiffen, was in der Zeit ja gerade in Mode kam. Die Filmsequenz, die seinen Sommer in wenigen Sekunden zusammenfasst, oder die leuchtend-schönen Pool-Szenen, fangen diesen Zustand sehr schön ein. Zugleich ist er aber wankelmütig, bisweilen unsympathisch, mal unsicher, mal auf weirde Weise aufbrausend. Nichols und Hoffman gestehen ihm zu, ein junger Mann zu sein, der nicht weiß, was er will, aber spürt, dass ein diffuser Erwartungsdruck auf ihm lastet.
Mike Nichols erzählt all das unter dem Deckmantel einer romantischen Komödie, greift manchmal die bekannten Tropes auf und unterwandert sie dann. Vor allem im ikonischen Ende gelingt ihm das auf perfide und brillante Weise. Benjamin, der sich im letzten Viertel des Films sehr sicher ist, dass er Elaine für sich gewinnen und ihre Hochzeit sprengen will, platzt wie im Wahn in die Zeremonie und bringt Elaine tatsächlich dazu, mit ihm durchzubrennen. Was erst wie das Happy End einer RomCom wirkt, wird kurz zur bösen Satire, als Benjamin mit einem großen, hölzernen Christuskreuz die Kirchentür versperrt, um dem Mob der Hochzeitsgesellschaft zu entkommen. Als die beiden dann lachend in einen Bus springen und nebeneinander sitzen, kriegen wir immer noch nicht das Happy-End. Die Kamera verweilt nämlich ein wenig zu lange auf den Gesichtern – bis das adrenalin-befeuerte Grinsen der beiden flackert, zu einem unsicheren Lächeln wird und dann in einem fast erschrockenen Blick endet. An dieser Stelle lässt auch bei den Zuschauenden der Rush der vorherigen Szenen nach – und man fragt sich: Warum wollen die beiden überhaupt zusammen sein? Sonderlich kompatibel oder gar glücklich wirkten sie im Film selten.
Eine weitere Hauptrolle – neben Hoffman als Benjamin, Anne Bancroft als Mrs. Robinson und Katharine Ross als Elaine – sollte aber auf keinen Fall unterschlagen werden: die Musik von Simon & Garfunkel. Was heute im Grunde als Standard gilt, etablierte Regisseur Nichols in Die Reifeprüfung: Er beauftragte ein junges, angesagtes Musikerduo damit, Songs für seinen Film zu liefern. Mike Nichols inszenierte diese dann wie einen weiteren Main Character: Viele Sequenzen, in den die Stimmen und das Gitarrenspiel von Simon & Garfunkel den Ton angeben, wirken gar wie Vorläufer von Musikvideos. Es kommt nicht von ungefähr, dass Nichols die Musik dermaßen wertschätzte. Er war ein enger Freund von Art Garfunkel, liebte die Musik der beiden und verhalf Garfunkel später zu dessen ersten Filmrollen.
An die Entstehung des Songs "Mrs. Robinson" erinnerte sich Art Garfunkel später im "Forbes"-Interview so: "Mike bat Paul, ihm einen Song zu schreiben, den Dustin auf seiner Fahrt entlang der Westküste singen könnte, um die bevorstehende Hochzeit seiner Freundin Elaine zu verhindern. Der Song musste schnell sein. Paul hatte den Rhythmus, aber keinen Text. Und dort, im Tonstudio, sagte ich zu Mike: ‚Weißt du, Paul arbeitet gerade an einem Song namens ‚Mrs. Roosevelt‘.‘ Mike sagte: ‚Weißt du, wie perfekt das passen würde, wenn wir nur den Namen ändern würden? Die Silben sind perfekt.‘ Also sang Paul ‚So here’s to you, Mrs. Roosevelt‘ und ich begann zu harmonisieren. Wenn ich mit Paul harmonisiere, passt alles zusammen, wie bei Simon & Garfunkel. Mike hörte sich das Duett an und war von der Idee begeistert, aber er wollte Mrs. Robinson statt Mrs. Roosevelt verwenden. Es gab noch keinen Text, deshalb hört man im Film: ‚Doo doo doo doo doo doo doo doo doo doo doo doo doo.‘ Das nennt man einen noch nicht geschriebenen Song [lacht]. Es gab nur den Refrain."
Vor wenigen Tagen ist Die Reifeprüfung als 4K UHD in einer umfangreichen 3-Disc Collector’s Edition inklusive des Grammy-prämierten Soundtracks neu veröffentlicht worden. Damit erstrahlt der Aufbruch in die Ära des New Hollywood in jenem Glanz, den er schon immer verdient hat.