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Die ersten 20 Minuten von Lost Highway (und was wir darin über David Lynch lernen)

Der ARTHAUS-Liveticker schaut sich Meisterwerke ganz genau an. Diesmal: Lynchs mysteriöser Mystery-Thriller aus dem Jahr 1997.

Filmgeschichten/Die ersten 20 Minuten von ...Filmgeschichten

15. April 2020

01. Minute

Wer ist der wahre Hauptdarsteller von Lost Highway? Die Straße! Wie lautet die Bestimmung des Wegs? File under: das Ziel. Was sagt uns hier der Mittelstreifen aus der Sicht des Autofahrers während der Fahrt in der Nacht? Es ist ganz schön finster in L.A. – und jede weitere Minute wird noch finsterer. Hollywood eben.

02. Minute

Das geniale Intro – Mittelstreifen gleich gestückelte Linearität, die Zukunft als Schwarzes Loch, das jede Frage nach Sinn absorbiert – bekommt durch David Bowies Stimme schon den Gänsehaut-Faktor, den normalerweise erst Angelo Badalamentis Score im Lynch-Kosmos auslöst. Titel des von Trent Reznor produzierten Bowie-Songs: "I’m Deranged". Name des Albums, von dem er stammt: "Outside". Thema: Dem Künstler erscheint ein Engel. Das ist deeper als die Nacht…

03. Minute

Der Vorspann verspricht so vieles, was man sich von einem David Lynch-Film erwartet… Dazu Bill Pullman und Patricia Arquette in den Hauptrollen! Und nach den Credits für ein paar Augenblicke einfach nur ein schwarzes Bild. Kurz die Augen schließen. Alles, was nun folgt, ist ein böser Traum. Bloß wer träumt ihn?

04. Minute

Der geträumte Film. Er kann nicht ohne Zigarettenglut im Dunkeln auskommen. (Die Glut als Entsprechung der Lichter der nachts funkelnden Stadt der Engel. Von den Hills aus gesehen. Sie verstehen.). Nicht ohne schnarrende Türklingel. Horch, was kommt von draußen rein?

05. Minute

Es kann auch nicht ohne ohne mysteriöse Botschaft weitergehen. Nicht ohne fehlenden Überbringer der Botschaft vor der Tür. Ja, so fängt ein ordentlicher Lynch-Mystery-Thriller an. Der Grusel des Alltäglichen. Und im Gegensatz zu den Machern von Lost hat uns David Lynch nie versprochen dass am Ende alles Sinn ergibt. Das waren Sigmund Freud und die Filmkritiker*innen. Bleiben wir entspannt. Sorry, gespannt.

06. Minute

Goldenes Saxofon! Frau im roten Kleid! Wenn das hier ein Jump & Run-Computerspiel wäre mit dem Ziel, Lost Highway zu entschlüsseln, dann würden wir diese Items jetzt einsammeln. Sie könnten später noch mal wichtig werden. Check!

Patricia Arquette als geheimnisvolle Renée

Patricia Arquette als geheimnisvolle Renée

07. Minute

Erst muss ja nicht viel geredet werden in einem Film von David Lynch, aber wenn dann sollten es REM-Phasen-intensive, arschcoole Dialoge wie dieser sein. Renée: "Ich lache gern, Fred!" – Fred: "Deswegen habe ich dich geheiratet." Dahinter steckt natürlich Lynch selbst. Diese Ehe ist ein einziger toter Briefkasten für seine lynchesken Gedanken.

08. Minute

Was wäre eine dunkle Nacht ohne Mond? Am besten in kühlem "Zauberberg"-Blau. Neonreklame: Luna Lounge. Hier treffen wir Fred und sein Saxofon wieder – beim Vorspiel zum Wiedersehen mit Renée, die ihn so liebevoll verbschiedet hatte: "Du kannst mich f...en, wenn du nach Hause kommst." Kunst ist eben Sex mit anderen Mitteln.

09. Minute

Das Klingeln des schwarzen Telefons. Schwer zu sagen, ob es bedeutet, dass die angerufene Person nicht zuhause ist oder bloß nicht rangehen will. Auf jeden Fall macht es so Schauer am Rücken. Zudem überführt Lynch den alten Topos Telefon (Bei Anruf Mord, "E.T nach hause telefonieren…") in die Zukunft. Das Medium selbst wird zum Hauptdarsteller und steht gleichzeitig für die menschlichen Abgründe sowie für den Horror der Kommunikation. Ein Smartphone avant la lettre. Ein Ding aus einer anderen Zeit.

10. Minute

Das Unheimliche äußert sich hier also in vielfacher Gestalt. Einmal durch eine diffuse Bedrohung von außen (Türklingel) und dann durch Freds Hilferuf (klingelndes Telefon). Die Beziehung zwischen Fred und Renée scheint zudem ein Tanz auf der Rasierklinge zu sein. Als er nach Hause kommt, schläft sie schon. Nee, oder? Wovon sie wohl träumt? Wir hören es läuten: Die schöne Vertrautheit der beiden hat einen doppelten Boden.

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11. Minute

In Hollywood trägt man morgens offensichtlich Morgenrock aber findet sicher nicht jeden Tag eine VHS-kassette vor der Tür. Die Ausnahme trifft auf die Regel. Renée ist überrascht. Die Post war also doch da! Und wir ahnen gleich, dass dieses anonym verschickte Video die Dinge eher komplizierter als einfacher machen wird. Was wohl drauf ist?

12. Minute

Fred: "Warum sehen wir uns die Kassette nicht an?" Ja, bitte! Was sind Geheimnisse wert, die man nicht teilen kann? Ein schöner Moment. Der nicht allzu lange währt…

13. Minute

Wenn man einen Film anschaut, erwartet man a) die Entführung in eine phantastische Welt, um aus der Realität zu flüchten b) von Bildern und Handlungen berührt zu werden, die nah am eigenen Leben sind. Aber so nah wie die Aufnahmen auf der Kassette Renée und Freds schönem Haus kommen? Lieber nicht. Lynchs surreale Elemente zeigen am besten, wie beklemmend die Wirklichkeit sein kann. Natürlich spielt es keine Rolle, wer dieses Video gedreht hat. Jedes Rätsel ist hier selbst ein Schlüssel. Und mit jedem Schlüssel öffnet sich die Tür zum nächsten Rätsel.

14. Minute

Kurz ist das Wort "Exit" in roten Neonbuchstaben im Bild. Wir wissen längst: Es bedeutet das Gegenteil.

15. Minute

Fred und Renée schlafen miteinander. Hollywood eben.

16. Minute

Fred und Renée schlafen immer noch miteinander. Jetzt in Zeitlupe und mit spannungsgeladener Musik untermalt. Das spricht für hohe Intensität. Pure Lust, die jede Sekunde in Schmerz oder gar Verzweiflung kippen kann. Lynchs Figuren befinden sich ja in einem ständigen Balanceakt. Bin ich noch ich selbst oder bin ich doch jemand anderes? Und als Renée Fred mit dunkel lackierten Fingern beruhigend auf den Rücken klopft, soll das vermutlich heißen: "Ich liebe dich, egal wer wir sind!" (Spoiler: Etwas später hat sie das Gesicht von einem alten Männlein…)

Haben Sie davon schon geträumt?

Haben Sie davon schon geträumt?

17. Minute

Die beiden sind fertig und wenden sich voneinander ab. Auf Lust und Zärtlichkeit folgt somit das spontane Gefühl der Entfremdung. So etwa: "Egal wer wir sind, wir sind zwei einsame Menschen." Ein Thema, das für Lynch so wichtig ist wie die Liebe selbst.

18. Minute

Fred erzählt Renée von einem Traum. Typisch für David Lynch ist das Prinzip der Verschachtelung. Der Film im Film, der Traum im Traum, das Haus im Haus. Wofür ein Christopher Nolan ungefähr zwei Stunden braucht, zeigt Lynch in einer einzigen Sequenz. Natürlich kommt ein roter Vorhang darin vor – und loderndes Feuer.

19. Minute

Sigmund Freud schreibt über das Vergessen der Träume: "Was wir vom Träumen erinnern und woran wir unsere Deutungskünste üben…dies eine Bruchstück, dessen Erinnerung uns eigentümlich unsicher vorkommt…" Ein solches Bruchstück, "verstümmelt durch die Untreue unseres Gedächtnisses", ist wie ein ganzer Film von David Lynch. Er hat keine Geschichte. Er hat keine Pointe. Er hat einen tieferen Sinn.

20. Minute

Der nächste Tag, der nächste Ausflug vor die Tür im Morgenrock, das nächste Paket mit der nächsten VHS-Kassette vor dem Haus. Jedes Déja-vu – so lehrt uns David Lynch nicht nur mit Lost Highway – stellt die Welt, wie wir sie kennen, in Frage. Und wenn wir mehr Fragen als Antworten haben, ist der Film zu Ende. Dauert aber noch ein bisschen. Also zurücklehnen und genießen und morgen gleich noch mal gucken.

WF

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