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Radiergummikopf und Rasenmäher: Ein Trip ins Lynch-Universum

Die Complete Film Collection mit zehn Filmen David Lynchs in einer Box lädt ein zur Reise in die Untiefen der menschlichen Seele und in die Abgründe der amerikanischen Provinz.

Filmgeschichten 16. Oktober 2019

Es gibt großes Kino, das wir lieben, weil es so spürbar leidenschaftlich mit Referenzen gespickt ist und uns dazu einlädt, gemeinschaftlich die Popkultur zu zelebrieren. Und es gibt großes Kino wie das von David Lynch, das wir lieben, weil es uns in vollkommen fremde Welten entführt, in die unendlichen Weiten außerhalb unseres eigenen Erfahrungshorizonts. Jeder Film ein Trip ins mysteriöse, faszinierende und virtuose Lynch-Universum.

Nicht selten fördert der 1946 in Missoula, Montana geborene Lynch das Dunkle, Abgründige, Obsessive und Krankhafte zutage, das hinter den makellosen Fassaden und penibel getrimmten Hecken amerikanischer Vorstädte im Verborgenen schlummert – ein heimtückischer Angriff auf die scheinbare Ordnung und Sauberkeit der gutbürgerlichen Gesellschaft. Und immer wieder bei ihm zu finden: das Motiv der enigmatischen Traumwelt, in der sämtliche Konventionen alltäglicher Realität außer Kraft gesetzt sind. Trotz der Rätselhaftigkeit, dem Unwohlsein und der Hoffnungslosigkeit, die oftmals zurückbleiben, ist Lynch als Regisseur die seltene Konstruktion einer Brücke zwischen Avantgardefilm und Massenpublikum gelungen. Denn Lynchs Arbeiten sind stets im Grunde auf etwas gerichtet, das jeden Zuschauer betrifft: auf den Menschen und sein Bewusstsein.

Der Blick hinter die bügerliche Fassade enthüllt wie in "Lost Highway" meist ein unheimliches Szenario

Der Blick hinter die bügerliche Fassade enthüllt wie in "Lost Highway" meist ein unheimliches Szenario

Schon die Wortschöpfung "lynchesk", eigens geschaffen um die sonderbare, zwischen Realität und Fiebertraum oszillierende Atmosphäre in Filmen wie Lost Highway (1997) zu beschreiben, ist Ausdruck für Lynchs spezielle und unnachahmliche Signatur, mit der jede seiner Regiearbeiten gekennzeichnet ist. Dieser ausgeprägte Charakter mag nicht zuletzt auf sein breit gefächertes Interesse für eine Vielzahl künstlerischer Ausdrucksformen zurückzuführen sein, besonders für Malerei und Fotografie, aber auch Sounddesign und Musikproduktion, das Verfassen von Drehbüchern und die Gestaltung von Möbeln. Bei einem solchen Universalkünstler überraschen schlussendlich nicht einmal mehr seine vieldiskutierten Ausflüge in die transzendentale Meditation.

Klangsphären des Unheimlichen

Ein Film bestehe im Grunde nur zu 50% aus bewegten Bildern, die anderen 50% aus der Tonspur, soll Lynch einmal gesagt haben. Und so verwundert es dann auch kaum, dass es ihn häufiger für Basteleien an seinen Soundtracks oder für die Produktion eines Musikalbums in die Tonstudios verschlägt. Schon für sein bizarres Spielfilmdebüt Eraserhead (1977), an dem er während seines Studiums am American Film Institute arbeitete, bastelte Lynch gemeinsam mit Alan Splet an einer passenden Klangkulisse, die dem schwarz-weißen Alptraum seinen letzten Schliff in Form der unheimlichen industriellen Atmosphäre verpasste.

A sense of place is critical to a film, and sound particularly can expand what you’re seeing and expand the world. Those things can break a mood and enhance a mood.

David Lynch in Eraserhead Stories

Glaubt man Lynchs eigener Darstellung in der Dokumentation Eraserhead Stories, verwendeten sie dafür aus Geldnot zahlreiche Magnetbänder aus den Müllcontainern der Warner Bros., von denen sie dank eines freundschaftlichen Hinweises wussten. Angeblich verschanzten sie sich zwei Monate ohne Pause im Studio, um den Film gerade noch rechtzeitig für ein Screening vor dem Cannes-Komitee in New York fertigzustellen. Dort wurde er dann auch vorgeführt – allerdings vor einem leeren Saal, da alle Mitglieder zwei Tage zuvor abgereist waren, wie Lynch später erfuhr. Der Popularität von Eraserhead tat dies offenbar keinen Abbruch: Zu seinen berühmtesten Fans zählen unter anderem Stanley Kubrick und George Lucas, von dem Lynch daraufhin das Angebot erhielt, die Regie bei Die Rückkehr der Jedi-Ritter zu übernehmen. Der Durchbruch gelang ihm letzten Endes jedoch nicht mit dem Star Wars-Projekt, das er bekanntlich ablehnte, sondern mit dem von Kritikern und Publikum hochgelobten Meisterwerk Der Elefantenmensch (1980) mit John Hurt und Anthony Hopkins, das insgesamt acht Oscar®-Nominierungen erhielt.

Nicht nur Laura Palmer bekommt in "Twin Peaks" von Lynch den Spiegel vors Gesicht gehalten

Nicht nur Laura Palmer bekommt in "Twin Peaks" von Lynch den Spiegel vors Gesicht gehalten

Eine besondere, inzwischen seit Jahrzehnten andauernde künstlerische Beziehung verbindet Lynch mit dem Komponisten Angelo Badalamenti, der an jedem seiner wichtigen Filmprojekte sowie der kultigen Serie Das Geheimnis von Twin Peaks (1990-92) maßgeblich beteiligt war. Mit seinen Soundtracks gelingt Badalamenti immer wieder die kongeniale Übersetzung von Lynchs Bildsprache in Musik, von Blue Velvet (1985) über Wild at Heart – Die Geschichte von Sailor und Lula (1990) bis hin zu Mulholland Drive (2001). Dank der wiederholten Zusammenarbeit mit Badalamenti konnte ein typischer Lynch-Sound entstehen, der sich wie ein roter Faden durch dessen Filmographie schlängelt.

Typisch untypisch Lynch: The Straight Story

Nach einer Reihe verstörender surrealistischer Bilderrätsel und einem blutigen Roadmovie vollzog Lynch am Ende der 90er Jahre eine radikale Wende mit seiner Verfilmung von The Straight Story – Eine wahre Geschichte (1999). Durch den Verzicht auf Erotik und Gewalt sorgte Lynchs bis heute wohl zugänglichste und am wenigsten kritisierte Regiearbeit beim internationalen Publikum für Überraschung und erwies sich als so massentauglich, dass sie in den USA sogar von Disney in den Verleih genommen wurde. Die herzerwärmende, auf einer wahren Begebenheit beruhende Geschichte des 73-jährigen Alvin Straight, der auf einem fahrbaren Rasenmäher über 500 Kilometer zurücklegte, um im benachbarten Bundesstaat seinen Bruder Lyle zu besuchen, wurde ausnahmsweise nicht von Lynch selbst, sondern von seiner Produzentin und damaligen Lebenspartnerin Mary Sweeney als Drehbuch für die Leinwand adaptiert.

Mit der Geschichte von Alvin Straight gönnt sich Lynch vornehmlich eine Pause von den Trips in düstere Abgründe

Mit der Geschichte von Alvin Straight gönnt sich Lynch vornehmlich eine Pause von den Trips in düstere Abgründe

Mit ihrem gedehnten Tempo und der konsequent geradlinigen Erzählstruktur unter Verzicht auf schnelle Schnittfolgen und Zeitsprünge ragt die Straight Story als außerordentlich ruhige, warme Erzählung aus dem Œuvre des Visionärs dunkler Traumwelten heraus. Doch selbst der "experimentellste" von Lynchs Filmen enthält einige künstlerische Konstanten, die ihn zu einem unverkennbaren Teil des Lynch-Universums machen. Auch dieses Mal legte der Regisseur die Musikbegleitung in die Hände von Angelo Badalamenti, dessen ruhige und harmonische Kompositionen in Verbindung mit den Aufnahmen der vorbeiziehenden goldstrahlenden Kornfelder Iowas wahre Wunder wirken.

The Straight Story ist eine kinematografische Entschleunigungskur, die gerade aufgrund ihrer auffallenden Andersartigkeit das Lynch-Universum erst komplettiert. Ein feinsinniger, leiser und lebenskluger Höhepunkt von Lynchs Tätigkeit als Regisseur, bevor er anschließend mit Mulholland Drive und Inland Empire (2006) zu seinen surrealistischen Anfängen zurückkehrte. Und wer genau hinsieht, wird auch in den ländlichen Ortschaften, die Richard Farnsworth als Alvin Straight mit schätzungsweise acht km/h und einer altersbedingten Engelsgeduld auf seinem Rasenmäher durchreist, die lauernden Abgründe der menschlichen Seele entdecken.

VL

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