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Joseph Carey Merrick: "Ich bin ein menschliches Wesen!"

Die wahre Geschichte hinter Davids Lynchs frühem Meisterwerk Der Elefantenmensch. Ein Blick auf die Hintergründe, originalen Fotos und Quellen der Geschichte.

Filmgeschichten 21. Mai 2020

David Lynchs frühes Meisterwerk bezieht sich auf das Leben des Briten Joseph Carey Merrick, der von 1862 bis bis 1890 lebte und auf dessen Beziehung zum Chirurgen Sir Frederick Treves. Letzterer lebte lebte von 1853 bis 1923, war ein hochgeachteter Chirurg des Royal London Hospital, rettete 1902 mit seiner Arbeit King Edward den VII. vor dem Tod (der Blinddarm!) und trug nicht nur deshalb den Titel "1st Baronet", was eine Erhebung in den erblichen, niederen Adelsstand der britischen Gesellschaft bedeutet. Treves ist Autor mehrerer Standardwerke wie zum Beispiel "Surgical Applied Anatomy" und "The Student's Handbook of Surgical Operations". Der Text von ihm, der am Ende die höchsten Wellen schlug war jedoch sein Memoir "The Elephant Man and other Reminiscences", das 1923 als schmales Buch erschien und 1963 einen zweiten Frühling erlebte. Dort war Treves Text nämlich im vierten Band der "Pan Book Of Horror Stories"-Reihe zu finden, die von Herbert van Thal herausgegeben wurde und ein großes Publikum erreichte. Eigentlich ein literarische Anthologie (wenn man denn, was man immer sollte, abgründige Krimi- oder Horror-Stories als solche anerkennt), entschuldigte sich von Thal für den Ausritt ins Dokumentarische: "Bei den vielen Lesern früherer Bände dieser Reihe, sowie bei neuen Lesern, entschuldigt sich der Herausgeber vorab, falls diese bemerkenswerte wahre Geschichte nicht das ist, was sie bei dieser Sammlung normalerweise erwarten. Er hofft dennoch, dass sie die Geschichte lesen. Denn vergessen, werden sie diese mit Sicherheit nie."

Frederick Treves, fotografiert um 1892 © Studiocanal

Frederick Treves, fotografiert um 1892 © Studiocanal

Merrick war zwar schon zu Lebzeiten bekannt. Wer ihn auf den zahlreichen Jahrmärkten, auf denen er Teil einer "Freakshow" des Geschäftsmannes Tom Norman war, gesehen hatte, erzählte diese Erfahrung oft schaurig ausgemalt weiter, wie man es sonst von urbanen Mythen kennt. Dass Merricks Lebensgeschichte jedoch bis in die Film- und Theaterwelt strahlte, liegt zu großen Teilen an Treves, der nicht nur ein angesehener Arzt der britischen Gesellschaft war und einen großen Teil seines Lebens damit verbrachte, den Armen und Kranken zu helfen, sondern auch ein versierter Schreiber. Gerade in seinen letzten Lebensjahren wurde Treves ein geschätzter Reise-Schriftsteller und korrespondierte fachlich und freundschaftlich mit seinem "Kollegen" Thomas Hardy. Treves Beschreibungen von Merrick, die er in seinen Memoiren mit dem Lebensende vor Augen schrieb, sind präzise, poetisch, ein wenig dramatisch – aber erstaunlich hart im Blick. Treves, der nicht nur im Film mit der Frage haderte, ob er tatsächlich Merrick oder seiner eigenen Karriere helfen wollte, zeigt recht schonungslos, dass Merrick ihn zuerst anwiderte und Treves ihn bei einer ersten Präsentation vor Arztkollegen wie ein Artefakt und nicht wie einen Menschen behandelte.

Portrait-Foto von Joseph Merrick in seinem Sonntagsanzug, um 1889

Portrait-Foto von Joseph Merrick in seinem Sonntagsanzug, um 1889

Es lohnt sich deshalb, hier einmal den kompletten Part aus "The Elephant Man and Other Reminiscences" zu zitieren: "Von den Berichten her hätte ich mir den Elefantenmenschen riesengroß vorgestellt. Aber er war nur ein kleiner Mann, der durch seinen Buckel noch kürzer wirkte. Das auffälligste Merkmal an ihm war jedoch sein gigantischer und missgestalteter Kopf. Aus der Stirn ragte eine riesige knöcherne Masse hervor, während am Hinterkopf ein Beutel mit schwammiger, pilzartig aussehender Haut hing, dessen Oberfläche mit einem braunen Blumenkohl vergleichbar war. Auf dem Kopf befanden sich ein paar lange, dünne Haare. Das knöcherne Wachstum auf der Stirn verdeckte ein Auge fast vollständig. Der Umfang des Kopfes war ebenso breit wie die Taille des Mannes. Aus dem Oberkiefer ragte eine weitere Knochenmasse wie ein rosafarbener Stumpf heraus, drehte die Oberlippe um und machte aus dem Mund eine bloße sabbernde Öffnung. Dieses Wachstum aus dem Oberkiefer war so ausgeprägt, dass es sich vermutlich um einen rudimentären Rüssel oder Stoßzahn handelte. Die Nase war lediglich ein Fleischklumpen, der nur an seiner Position als Nase erkennbar war. Das Gesicht war so ausdrucksfähig wie ein Stück knorriges Holz. Der Rücken war furchterregend, denn bis in die Mitte des Oberschenkels hingen riesige, sackartige Fleischmassen, die von der gleichen widerlichen Blumenkohlhaut bedeckt waren.

Der rechte Arm war übermäßig groß und formlos. Daher kam der Verdacht der Elephantiasis auf. Er war ebenfalls mit den hängenden Massen der gleichen blumenkohlartigen Haut überwachsen. Die Hand war enorm und ungeschickt – eher vergleichbar mit einer Flosse oder einem Paddel. Es gab keine Trennung zwischen der Handfläche und dem Rücken. Der Daumen hatte das Aussehen eines Rettichs, während die Finger dicke, knollige Wurzeln gewesen sein könnten. Als Glied war es jedenfalls fast nutzlos. Der andere Arm hingegen war bemerkenswert. Er war nicht nur völlig normal, sondern sogar ein besonders zart geformtes Körperteil, das mit feiner Haut bedeckt und mit einer schönen Hand versehen war, auf die jede Frau neidisch geworden wäre. An der Brust allerdings hing eine Art Tüte mit demselben abstoßenden Fleisch, vergleichbar wie die lose Haut, die man am Hals einer Eidechse findet. Die unteren Gliedmaßen hatten ähnliche Eigenschaften wie die des entstellten Arms. Sie waren unhandlich, tropfenförmig und stark missgebildet. Um seine Situation noch zu erschweren, entwickelte der arme Mann als Junge eine Hüfterkrankung, sodass er nur an einem Stock gehen konnte. Ihm wurden somit alle Fluchtwege vor seinen Peinigern verwehrt. So erklärte er mir später, dass er nie weglaufen konnte. Darüber hin-aus muss ein weiteres Merkmal Erwähnung finden, das ebenfalls zu seiner Isolation beitrug: Obwohl er optisch schon abstoßend genug war, entstand durch das pilzartige Hautwachstum, mit dem er fast vollständig überzogen war, ein widerlicher Gestank, der nur schwer zu ertragen war. Vom Showman Norman erfuhr ich nur, dass Der Elefantenmensch 21 Jahre alt war, aus England kam und John Merrick hieß."

Im überlieferten Original von Frederick Treves sieht man, dass Treves zunächst Merricks korrekten Namen Joseph niederschrieb, diesen dann durchstrich, und schließlich John aus ihm machte - der Name, mit dem Merrick dann seinen Weg in das Drehbuch von Christopher de Vore und Eric Bergren sowie in das Theaterstück von Bernard Pomerance fand.

Joseph Merricks Hut und Schleier, nachweislich in der Zeit von 1884 bis 1890 getragen © Studiocanal

Joseph Merricks Hut und Schleier, nachweislich in der Zeit von 1884 bis 1890 getragen © Studiocanal

Das Drehbuch, aus dem David Lynch nach eigenen Handgriffen später seinen Film machte, hält sich im Großen und Ganzen an die überlieferte Lebensgeschichte Merricks – ab dem Moment, in dem Treves Merrick auf einem Jahrmarkt begegnet. Joseph Merrick wurde in Leicester geboren, als eines von drei Geschwistern. Seine Krankheit wurde erst in den weiteren Lebensjahren sichtbar, beginnend als er sieben Jahre alt war. Zu Lebzeiten gingen die Ärzte davon aus, er leide an Elephantiasis (eine abnorme Vergrößerung eines Körperteils durch einen Lymphstau), was auch seinen "Namen" erklärt. 1971 nahm der Anthropologe Ashley Montagu in seiner Studie "The Elephant Man: A Study in Human Dignity" (die neben Treves‘ Buch eine weitere Quelle für Drehbuch und Film war) an, Merrick leider unter der Erbkrankheit Neurofibromatose. Erst 1979 entdeckte man das seltene Proteus-Syndrom – eine angeborene Erkrankung, die ab dem Kindesalter zu regionalem Überwuchs führt – die fortan als Diagnose für Merricks Erkrankung gilt. Die Wahrheit liegt quasi irgendwo in der Mitte: Eine DNS-Analyse von Merricks Knochen und Haaren, die 2003 durchgeführt wurde, bestätigte das Proteus-Syndrom, zeigte jedoch auch Spuren einer Neurofibromatose-Erkrankung. Merricks Mutter starb als er 11 Jahre alt war. Sein Vater und seine Stiefmutter hatten wenig Liebe für ihn – eher im Gegenteil: Die "neue" Mutter, die eigene Kinder mitbrachte, drängte Josephs Vater, ihn aus dem Haushalt zu verstoßen. Merrick zog zu seinem Onkel Charles, der ihm eine Anstellung in einer Zigarrenmanufaktur besorgte. Der Alltag währte jedoch nur kurz: Mit fortschreitendem Verlauf seiner Krankheit und dem Anschwellen seiner Hand konnte Joseph Merrick die nötigen Arbeitsgriffe nicht mehr ausführen. Nach einer wenig erfolgreichen Phase als Straßenverkäufer, traf er schließlich auf Tom Norman und seine Jahrmarktstruppe.

Brief von Merrick an eine Gönnerin, die ihm ein Buch und einen Auerhahn geschickt hatte. © Studiocanal

Brief von Merrick an eine Gönnerin, die ihm ein Buch und einen Auerhahn geschickt hatte. © Studiocanal

Hier beginnt auch der Film von David Lynch, der sich fortan einige dramaturgische Freiheiten nimmt und einige Namen und Begebenheiten ändert. Merricks "Chef" auf dem Jahrmarkt Tom Norman zum Beispiel heißt im Film lediglich Bytes und wird als Stereotyp eines gierigen Bösewichts inszeniert. Inzwischen weiß man, dass Merrick in seiner Entscheidung, für Norman aufzutreten und mit ihm zu reisen, freier war, als man es ihm zutraute: Da Merrick wusste, dass er "normale" Jobs nicht ausführen konnte, war das eine zwar erniedrigende aber auch mit Reisen und eben mit Arbeiten verbundene Tätigkeit. Die Schauspielerin Madge Kendal wiederum wurde im Film als wunderschöne, gütige, hilfsbereite Dame von Welt inzseniert, die völlig ohne Berührungsängste bei einem ersten Treffen mit Merrick einen Dialog aus "Romeo und Julia" mit ihm spielte. Kendal warb zwar wirklich um finanzielle Unterstützung für Merrick, um seine Unterbring als einziger "Daugergast" in der langen Geschichte des London Hospitals in Whitechapel zu finanzieren. Und sie bezahlte zum Beispiel einen Korbflechter dafür, dass er Merrick im Krankenhaus diese Kunst vermittelte, aber für ein direktes Zusammentreffen zwischen Merrick und Kendal gibt es keine Beweise. Die dramatische Szene am Bahnhof Liverpool Street Station bei Merricks Rückkehr nach London, wo er als letzte Verteidigung vor dem Mob ruft: "I am not an elephant! I am not an animal! I am a human being! I ... am ... a ... man!", ist durch diverse mündliche Quellen und Zeitungsberichte überliefert, sie fand allerdings direkt an den Gleisen statt und nicht, wie bei Lynch vor der erniedrigenden Kulisse der Männer-Pissoirs.

Von Merrick gefertigter Bausatz des Mainzer Doms © Studiocanal

Von Merrick gefertigter Bausatz des Mainzer Doms © Studiocanal

Der Kern der Geschichte bleibt jedoch bestehen: Merrick war ein kunstinteressierter, warmer, an der Welt und an seinen Mitmenschen interessierter Mann, der nicht zuletzt durch das Arrangement mit dem London Hospital am Ende ein friedliches Leben führte. Damit gewann er die Herzen jener Teile der Gesellschaft, die nicht aus anatomischen oder medizinischen sondern aus wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gründen als Freaks und Außenseiter galten – eine Geschichte, die auch Jahre noch zutiefst berührt, nicht zuletzt dank David Lynch, John Hurt und Anthony Hopkins.

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