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Mulholland Drive: (K)Eine Gebrauchsanweisung

Wie nähert man sich eigentlich einem Wunder- und Meisterwerk wie Mulholland Drive von David Lynch? Gute Frage, auf die es gleich mehrere Antworten gibt. Einige stellt unser Autor in diesem Essay vor. Diese Woche liefert sogar noch eine Bonus-Antwort, nämlich: im Kino. Am Dienstag läuft der Lynch-Klassiker im Rahmen der "Best of Cinema"-Reihe bundesweit in ausgewählten Kinos.

Filmgeschichten/Drehmomente 31. Januar 2022

Als Kultur- oder Filmjournalist*in kämpft man ja ständig mit diesem Imposter-Syndrom. Reicht mein Filmwissen oder mein Nerdtum, um dieses Thema anzugehen? Treffe ich die von den Macher*innen intendierte Botschaft oder Interpretation? Ist das überhaupt das Ziel? Reicht es, den Film ein-, zwei-, drei-, vier-, fünfundsiebzigmal gesehen zu haben? Das sind Fragen, die sich mir eigentlich immer stellen, wenn ich für das ARTHAUS Magazin einen Text schreibe. Denn hier befasst man sich oft mit Filmen, die verehrt, verkultet, vergöttert, besungen, zerpflückt und schließlich in den Kanon der filmischen Meisterwerke erhoben wurden. Aktuelles Beispiel: Mulholland Drive von David Lynch. Gerade erschienen in einer sehr schönen Jubiläumsbox – restauriert mit engagierter Beteiligung des Regiemeisters höchst selbst. Wie nähert man sich – egal ob journalistisch oder als Filmfan – diesem Meisterwerk? Nun, vielleicht so …

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1. Mit Kopfsprung ins Rabbit Hole

Erste Prämisse in diesem Game sollte natürlich sein: Trauen Sie nie einem Menschen, der behauptet, Mulholland Drive geblickt zu haben. Darauf ist der Film schlichtweg nicht angelegt. Was David Lynch schon während der Dreharbeiten zugab. Justin Theroux, der den Regisseur Adam Kesher spielt, berichtete später dem Magazin IndieWire, er habe Lynch beim Dreh immer wieder gefragt, was das alles bedeuten solle. Lynch habe dann stets geantwortet: "Weißt du, Buddy? Ich weiß es nicht. Aber lass es uns rausfinden." Theroux meinte, Lynch sei dabei nicht cheeky oder abweisend gewesen – er habe es wirklich nicht gewusst. Trotzdem gibt es, wie bei jedem Mysterium, viele Menschen, die sich damit nicht abspeisen lassen wollen. Diese treffen sich – natürlich! - im Internet, und zwar auf der Fan-Deep-Dive-Seite mulholland-drive.net, die ebenso unendlich und genial wie ermüdend und überwältigend ist. Wer also wirklich den verschiedenen Bedeutungsebenen, Interpretationen und Querverbindungen nachspüren will, findet hier das perfekte Rabbit Hole. Wie immer: Eintritt auf eigene Gefahr.

Die nur bei uns im Shop erhältliche Jubiläumsedition. © Arthaus / Studiocanal

Die nur bei uns im Shop erhältliche Jubiläumsedition. © Arthaus / Studiocanal

2. Folgen Sie (trotzdem) dem Rat des Meisters

Um der allgemeinen Begeisterung und Verwirrung im Veröffentlichungsjahr Zucker zu geben, veröffentlichte David Lnych am 20. Januar 2002 in der britischen Sonntagszeitung „The Observer“ zehn Hinweise, die bei der Entschlüsselung des Films helfen sollen. Und zwar diese hier:

- Schenken Sie dem Anfang des Films besondere Aufmerksamkeit: Zwei wichtige Hinweise finden sich bereits vor dem Vorspann.
- Beobachten Sie, wann und wo rote Lampenschirme eine Rolle spielen.
- Achten Sie darauf, wie der Titel des Films lautet, für den die Schauspielerinnen bei Adam Kesher vorsprechen. Wird dieser Titel an einer anderen Stelle wiederholt?
- Ein Unfall ist ein schreckliches Ereignis … Beachten Sie genau den Ort des Unfalls.
- Wer gibt wem einen Schlüssel – und warum?
- Achten Sie auf den Bademantel, den Aschenbecher, die Kaffeetasse.
- Was wird im Club Silencio gefühlt, erkannt und mitgenommen?
- Half Camilla allein ihr Talent?
- Beobachten Sie genau die Vorkommnisse im Umfeld des Mannes hinter Winkie’s.
- Wo ist „Tante Ruth“?

Alles klar?

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3. Konzentrieren Sie sich auf die Form

In seinem Essay für unsere Mulholland Drive-Box schreibt der Redakteur des besten Filmmagazins England – "Little White Lies" – David Jenkins: "Die Wahrheit ist, dass man es völlig falsch angeht, wenn man Mulholland Drive -oder irgendeinen von Lynchs Filmen - unter der Prämisse ansieht, ihnen eine einfache Bedeutung oder Botschaft zu entnehmen." Recht hat er. Jenkins schlägt deshalb vor, in die Grammatik und Form des Films einzusteigen, weil diese eben handwerklich betrachtet betont klassisch ist - und damit einen Halt bietet, den die mäandernde, mysteriöse Handlung einem nicht geben kann. Das schlägt David Jenkins aber nicht vor, um diesen Film irgendwie packen zu können. Eher im Gegenteil. Jenkins Perspektive öffnet eher einen Bonus-Level oder eine weitere Mystery-Box – und erhöht den Spaß an Mulholland Drive. Jenkins schreibt: "Lynchs Ansatz ist es, die einfache grammatikalische Form des Schnitts zu unterlaufen, die uns in Mulholland Drive an überraschende und gelegentlich unerklärliche Orte entführt. […] Gerade die Art und Weise, wie er sich spielerisch über die Konventionen lustig macht, ermöglicht dieses Kunststück. Anstatt die Schachfiguren zu bewegen, um die Geschichte zu erzählen, bewegt er das Brett und gelegentlich auch den Tisch, auf dem das Brett steht."

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4. Verfallen Sie Cast und Kulisse

Kollege Wolfgang Döllerer schrieb in seiner sehr persönlichen Liebeserklärung an diesen Film in unserer Reihe ARTHAUS Inhaus über seine prägende, erste Begegnung mit Mulholland Drive: "Ja, schon damals, als ich nach dieser für mich so wichtigen Spätvorstellung, in die Nacht hinaustrat, die Windungen des Mulholland Dr., den Blick über das glitzernde Schimmern der nächtlichen Stadt unterhalb der Hollywood Hills noch einmal Revue passieren lassend, wusste ich, dass sich hier gerade ein Portal geöffnet hatte, durch welches ich fraglos auch in folgenden Jahren immer wieder einzutreten wünschen würde." Mulholland Drive wird bis heute immer wieder gesehen, weil er eine sehr spezielle Aura hat. Daran sind neben Lynch auch seine Cutterin Mary Sweeney, Kameramann Peter Deming und Score-Komponist (und hier auch Darsteller) Angelo Badalamenti "Schuld". Sie alle machen aus Los Angeles und seinen Abgründen eine Zwischenwelt, die man immer wieder gerne bereist. Ebenso faszinierend sind aber die schauspielerischen Leistungen des Casts – allen voran Naomi Watts als die, die Handlung vorantreibenden und/oder -träumenden Betty Elms und Diane Selwyn. Im Film sagt sie einmal den Satz sehr hintersinnig: "It'll be just like in the movies. Pretending to be somebody else." Alleine Watts Spiel zu folgen, ihren Sprüngen zwischen Realitäten und Rollen, hinterlässt einen schwindelig und begeistert. "This is the girl" – der rätselhafte, vermeintliche Leitsatz des Films trifft auf jeden Fall auf die Hauptdarstellerin von Mulholland Drive zu.

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5. Dimmen Sie das Licht und drücken sie auf „Play“

Es ist nicht immer leicht – egal ob man Filmjournalist*in ist oder nicht – den Kopf zu leeren und sich völlig unvoreingenommen auf einen Film einzulassen. Je höher die kulturell verbriefte Kampfklasse eines Filmes, desto schwieriger wird es. Deshalb habe ich mich zuletzt selbst überlistet und Mulholland Drive – ein Film, den ich schon im Studium ausgiebig analysiert und einige Mal gesehen habe – in einem Zustand der Erschöpfung angeschaltet. Es war kurz nach elf, ein langer Arbeitstag lag hinter mir, die "Tagesthemen" hatte ich schon halb verpennt und ich lag so dermaßen gemütlich in der Kuhle meines Sofas, dass ich permanent gegen den Schlaf kämpfte. Plötzlich dachte ich mir: DAS ist der perfekte Moment für Mulholland Drive. Die Erschöpfung und die Faszination der Bilder brachten mich in eine Art meditativen Zustand, bei dem ich manchmal auch nicht mehr wusste, ob ich die ein oder andere Szene nun geträumt hatte oder nicht. Ein surreales Erlebnis, das zwar auch den Wunsch weckte, den Film am nächsten Tag noch einmal hellwach zu schauen, das aber auch sehr nah an der Philosophie von David Lynch war. Denn der sagte einmal – zum Beispiel 2007 in London bei einem Vortrag an der Seite des Musikers Donovan –, dass jedes Kunstwerk, an dem er jemals beteiligt war, ein Produkt der Meditation sei. Die ihm seit jeher helfe, verborgene Innenwelten zu erschließen. Vielleicht ist das also der beste oder der spannendste Weg, Mulholland Drive zu erleben: Indem man den Film als Schlüssel nutzt, die eigenen verborgenen Innenwelten und Träume in diesen so rätsel- wie meisterhaften Film fließen zu lassen.

6. Erleben Sie Mulholland Drive im Kino

Es gibt einige Klassiker der Filmgeschichte, die man immer wieder auf einer Kino-Leinwand schauen kann. Weil es Herzblut-Täter*innen gibt, die in ihren Kinos eben nicht nur den aktuellen Stoff bringen, weil Filme wie Mulholland Drive immer gut bei Freiluft-Kino-Events funktionieren, oder aber weil ein Film Teil unserer Reihe "Best of Cinema" geworden ist. Dort bringen wir an jedem ersten Dienstag im Monat einen unserer Arthaus-Klassiker in ausgewählte Kinos. Wenn Sie also Mr. Lynch im Kino erliegen wollen, erfahren Sie hier, wo man "Mulholland Drive" in ihrer Nähe restauriert auf Leinwand schauen kann.

Daniel Koch

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