Natürlich muss der erste gesprochene Satz in diesem Film dieser sein: "Ich bin nicht Stiller!" Albrecht Schuch spricht diese Worte direkt in die Kamera. Mit einem Blick, aus dem fast ein wenig zu deutlich die Wahrheit sprechen soll, die vielleicht gar keine ist. Schon diese Sekunden machen die Fallhöhe der Verfilmung deutlich: Der Satz ist ikonisch – einer der bekanntesten in der deutschsprachigen Literaturgeschichte. Der Plot ist vielen bekannt – es gilt also, das Verwirrspiel so unterhaltsam zu adaptieren, dass die meisten die schon bekannte Pointe unterwegs vergessen. Und, last but not least: Das Geschlechter-Rollenbild der 50er-Jahre, das ein wesentliches Element des Romans ist, wirkt heutzutage nicht nur angestaubt, sondern genauso patriarchalisch und sexistisch, wie es damals im Grunde war.
Aber der Reihe nach: Wer die Max-Frisch-Tage im Deutschunterricht nicht mehr ganz greifbar hat: Der Schweizer Schriftsteller veröffentlichte den Roman "Stiller" im Jahr 1954 im Suhrkamp-Verlag. Über die Jahre verkaufte sich das Buch mehrere Millionen Mal, wurde in über 30 Sprachen übersetzt und begründete den Weltruhm des Schweizers. Frisch erzählt in "Stiller" aus der Perspektive des angeblichen Amerikaners James Larkin White, der von Grenzpolizisten verhaftet wird, weil diese ihn für den Bildhauer Anatol Stiller halten, der wegen eines Mordverdachts und einer Verstrickung in politische Affären polizeilich gesucht wird. White bestreitet das, erzählt seinem gutmütigen Gefängniswärter Knobel Geschichten aus dem wilden Amerika, verstrickt sich in Widersprüchen und Ungenauigkeiten und irritiert so seinen Anwalt und den Staatsanwalt gleichermaßen.
Aufklären soll das Verwirrspiel Stillers Ehefrau Julika, die inzwischen als Ballettlehrerin in Paris lebt. Sie reist nach Zürich, um herauszufinden, ob White wirklich (nicht) Stiller ist. Aus dem perfekt gewählten Cast stechen vor allem Albrecht Schuch als White, Paula Beer als Julika, aber auch Max Simonischek als erstaunlich einfühlsamer Staatsanwalt Rolf Rehberg und Marie Leuenberger als dessen Frau Sibylle (die damals eine Affäre mit Stiller hatte) heraus. Der junge Stiller wird in den Rückblenden des Films übrigens von Sven Schelker gespielt, der eine große Ähnlichkeit mit Albrecht Schuch hat – was sehr angenehm zu Verwirrung beiträgt.
Julika Stiller (Paula Beer) zwischen Staats- und Rechtsanwalt © STUDIOCANAL
Der Schweizer Regisseur Stefan Haupt hat sich bei seiner Stiller-Adaption entschieden, die Motive und Eigenschaften der Charaktere ein wenig nachzujustieren. Die Konstellation bleibt im Grunde erhalten, aber Haupt macht aus dem anfangs so charismatischen und männliche White und/oder Stiller nach und nach eine eher tragische, in toxischer Männlichkeit gärende Figur. Staatsanwalt Simonischek wiederum ist kein diabolischer Gegenspieler, sondern ein Mann, der seiner Frau eine Affäre verzeihen konnte, weil diese eben gute Gründe dafür gehabt hatte. Nach Jahren der Trennung fanden die beiden schließlich wieder zusammen, weil sie merkten, dass ihre Liebe tiefer sitzt als Eifersüchteleien über Affären, die eher eine körperliche Lust befriedigen sollten.
Die Frauenfiguren wiederum sind die eigenen Treiberinnen der Geschichte – allen voran Julika Stiller, deren Misstrauen gegenüber White anfangs verbissen, dann amüsiert und zwischendurch auch mal von alten Gefühlen verhangen ist. Eine Lovestory sieht man noch – aber eine launische, zweifelnde, hadernde. Nicht nur die Melancholie vergangener Liebe schwebt über den beiden, sondern auch die von Julika verinnerlichte Erkenntnis, dass ihr Anatol Stiller ein ziemliches Arschloch war.
Albrecht Schuch und Paula Beer © STUDIOCANAL
Stefan Haupt sagt über die Besetzung der Hauptrollen: "Albrecht Schuch wurde sehr früh als Wunschkandidat für die Hauptrolle des James Larkin White besetzt. Wir hatten vorab lange Gespräche zum Drehbuch und zu seiner Rolle. Was die Figur durchlebt und welche Entwicklung sie macht? Was ist anders bei White? Was waren die Knackpunkte bei Stiller sieben Jahre zuvor? Albrecht gab sehr wertvolle Vorschläge. Mit Paula Beer war das ganz ähnlich. Bei beiden spürte ich die Drehbucherfahrung. Sie stellten hilfreiche Fragen aus ihrem Blickwinkel heraus. Was ist denn mit Julika? Weshalb lässt sie sich jetzt wieder auf ihn ein, obwohl sie doch so tief verletzt wurde? Ich hatte großes Interesse, sie am Prozess zu beteiligen."
Albrecht Schuch und Paula Beer hatten außerdem schon vorher gemeinsam vor der Kamera gestanden und in einer der besten Serie der deutschen TV-Geschichte brilliert. "Paula war meine Wunschpartnerin", sagt er. "Es war nach ‚Bad Banks‘ (2018) unser Wiedersehen vor der Kamera. Wir haben irgendwie einen leichten geschwisterlichen Umgang miteinander." Schuch macht auch keinen Hehl daraus, dass er anfangs skeptisch war, ob man den Roman "Stiller" heute schlüssig auf die Leinwand bringen kann. Er und Stefan Haupt hätten sich fast ein halbes Jahr über das Drehbuch ausgetauscht, bevor Schuch schließlich zusagte. "Da war noch einiges, was ich nicht verstanden habe und was ich schwierig fand. Dann haben wir uns gefunden und wussten, in welche Richtung wir gemeinsam gehen wollen. Witzigerweise glaube ich, wir ergänzen uns insofern ganz gut als das Stefan manchmal zu nett ist und ich manchmal zu kritisch. Ich habe einfach Lust an der produktiven Konfrontation. Ich fordere viel, obwohl ich gleichzeitig weiß, dass 95% meiner Ideen falsch sind, aber ich will das halt so machen und ausprobieren."
Paula Beer stieß auch mit Zweifeln zur Produktion hinzu, wie sie in den Interviews für das Presseheft erzählt: "Ich fragte mich vor allem ‚Warum lässt sich eine Frau wieder auf einen Mann ein, von dem sie so sehr verletzt wurde?‘. Damit verbunden war auch meine Sorge, dass hier das Klischee von der schwachen Frau, die dem Mann verfällt, mitschwingt. Dennoch fand ich den Gedanken auch schön, weil es etwas Menschliches hat und Größe beweist." Trotzdem sei Julika für sie eine sehr interessante Figur. "Sie muss mit ihrer Krankheit und dem plötzlichen Verschwinden ihres Mannes klarkommen und ein neues Leben beginnen. Manche Sachen kann man aber nicht wirklich abschließen, wenn das Gegenüber sich verweigert. In dem Moment, in dem sie nach Zürich gebeten wird, kommt alles wieder hoch, vielleicht auch der Wunsch eine Entschuldigung zu hören."
Regisseur Stefan Haupt mit Paula Beer und Albrecht Schuch © STUDIOCANAL
Für den in Zürich aufgewachsenen Regisseur Stefan Haupt ist es ein Glückfall, dass es bisher noch keinen filmischen Stiller gegeben hat. "Soweit ich weiß, hatte sich Anthony Quinn jahrelang die Rechte optioniert, aber es kam nicht dazu. Max Frisch wollte einmal, dass Luchino Visconti den Stoff verfilmt, was auch nicht klappte. Auch Wim Wenders war einmal in Zürich und hatte kurzzeitiges Interesse daran. Ich bin wahnsinnig froh, dass das alles nie geklappt hat, und wir das jetzt gemacht haben."
Haupt wuchs in der gleichen Gegend auf wie Max Frisch und traf den Autor, den Haupt gar seinen "Lieblingsautor" nennt, noch zu Lebzeiten, wie er im Interview für das Presseheft erzählt: "Ich dirigierte früher einmal einen Chor. Da machten wir ein experimentelles Konzert mit einem Ausschnitt aus ‚Stiller‘, die Höhlengeschichte. Damals überlegte ich, wie ich an die Rechte dafür gelangen könnte? Dann traf ich Max Frisch zufällig während einer Demonstration auf der Straße und sprach ihn direkt darauf an. Er antwortete: ‚Sie schreiben dem Suhrkamp Verlag, dann sagt der Suhrkamp Verlag ‚nein‘ und dann kommen sie wieder zu mir. Dann sag ich ‚ja‘ und dann können sie das machen." Da war ich dann bei ihm zu Hause und bekam die Erlaubnis von ihm direkt. Das war vielleicht ein Jahr vor seinem Tod. Er war schon sehr krank. Ein unvergessliches Erlebnis."
Abschließend sei jedoch bei allem Lob für diese gelungene Verfilmung anzumerken, dass Max Frisch in einem Punkt Einspruch erhoben hätte: Das Zürich in Stefan Haupts Stiller ist viel zu schön – und trifft so gar nicht die spitz formulierte Hassliebe, die Frisch in seinem Roman genüsslich zelebriert. Aber das erläutern wird in den kommenden Tagen in einem weiteren Text …
Daniel Koch