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Die Nächte der Cabiria: Liebe ohne Netz und doppelten Boden

1957 gelang Federico Fellini ein Film für die Ewigkeit – mit seiner langjährigen Ehefrau und kongenialen Partnerin Giulette Masina in einer ihrer größen Rollen. Der Klassiker erscheint nun als Digital Remastered-Fassung.

23. September 2021

Das größte Glück auf Erden scheint für Maria »Cabiria« Ceccarelli in jenem Moment möglich, in dem ihre lang gehegte Hoffnung nur noch einen Schritt davon entfernt ist, sich zu erfüllen. Doch schon in diesem Augenblick ist die junge Frau dabei, den sprichwörtlichen Schritt zu weit zu gehen. Voller Überschwang läuft sie Gefahr, mitsamt ihren Sehnsüchten abzusaufen. Das ist nicht nur so eine Redensart.

Eine mitreißende Persönlichkeit

Federico Fellinis Die Nächte der Cabiria (1957) beginnt beinahe mit einem tödlichen Unglück, und es ist der Meisterschaft sowohl des Regisseurs als auch seiner Hauptdarstellerin Giulietta Masina anzurechnen, dass dieser Filmanfang bereits ein Grundgefühl für die Träume der Protagonistin vermittelt – und eine Idee davon, was das Schicksal in Wahrheit für sie bereithält. Es ist ein offener Anfang, das Äquivalent zum losen Ende einer Geschichte. Gutgelaunt eilen Cabiria und ihr Liebhaber ins Bild – sie mit betont kindlichem Elan, er mit zur Schau gestellter männlicher Coolness –, und man ahnt sofort Böses, als er sie anweist vorauszulaufen. Dieses Kommando lässt schließlich eine gewisse Überlegenheit vermuten, und die Person, die es ausspricht, tut es in der Regel entweder in der Rolle als fürsorgliche Nachhut oder aus Feigheit, schlimmstenfalls sind niederträchtige Beweggründe im Spiel. Wir hören es läuten, aber Cabiria beschleicht keine böse Ahnung, jedenfalls lässt sie sich nichts anmerken. Fröhlich hüpft sie ins Wasser während ihr Begleiter am Ufer verharrt und plötzlich nach ihrer Handtasche schnappt. Ohne mit der Wimper zu zucken macht der Gauner sich aus dem Staub. Als wäre das nicht schlimm genug, droht Cabiria zu ertrinken.

Cabiria in ihrem Element © Studiocanal

Cabiria in ihrem Element © Studiocanal

Fürsorgliche Nachhut, Feigheit, Niedertracht. Die Zuschauer*innen erfahren schlagartig, dass der kaltblütige Gefährte Cabirias alle jene Zuhälter-Attribute auf sich vereint. Auch wenn wir Giorgio persönlich nie besser kennenlernen als in dieser beklemmenden Szene, so ist er seinem Opfer doch kein Unbekannter. Im Gegenteil hat er sie über einen längeren Zeitraum ausgenutzt. Und schon während Cabiria um ihr Leben strampelt, weist uns Fellini darauf hin, dass die im Stich Gelassene von den Männern an sich kaum etwas Gutes zu erwarten hat. Keiner der Zeugen ihres Todeskampfs kann oder will sie retten. Letztlich sind es Kinder, die sie an Land ziehen. Dort leisten die Erwachsenen zwar erste Hilfe, aber so unbeholfen und geradezu respektlos, als wollten sie einen frischgeborenen Säugling mit dem notorischen Klaps auf den Rücken zum Atmen bringen, ohne groß drüber nachzudenken, dass sie einen ausgewachsenen Menschen vor sich haben.

Das Feuer in Cabirias Brust lässt sich nicht so schnell auslöschen

Die Zuschauer*innen können hier nach dem anfänglichen Schrecken mit ein paar Lachern Luft holen. Doch Cabiria überlebt den Anschlag und diese Slapstick-artige Notversorgung wohl am ehesten dank ihres starken Herzens. Das Feuer in ihrer Brust kann man offenbar nicht so schnell auslöschen. Keine Frage, den ganzen Film über scheint es so, als ziehe der Strudel der Ereignisse sie immer tiefer in den Moloch des eigenen Elends hinein, zugleich wirkt diese mitreißende Person angesichts ihrer optimistischen Energie in der Lage, die Kulissen und Menschen um sich herum in Bewegung zu halten, um selbst den Fortlauf der Handlung anzutreiben. Bösartig könnte man es so formulieren: Sie schaufelt sich beständig ihr eigenes Grab, blind vom Trachten nach tieferem Sinn. Cabiria ist jedoch keine Witzfigur, auch wenn sie in jeder Situation ihren Witz aufblitzen lässt, sogar als sie eigentlich längst tot sein sollte. Cabiria ist ein Komet, Fellinis Filmwelt ihr Schweif.

Die Fesseln des Lebens

1954 feierte Federico Fellini einen großen Erfolg mit dem melodramatischen La Strada – Das Lied der Straße, und Die Nächte der Cabiria gilt gemeinhin als dessen positive Variation – Parallelen sind besonders deutlich in den Frauencharakteren zu beobachten, die im Mittelpunkt der Filme stehen. Auch die Geschichte der ebenfalls von Giulietta Masina verkörperten Gelsomina aus La Strada beginnt am Wasser. Ihr Zuhause liegt allerdings am Meer, nicht in der römischen Vorstadt, der Blick zum Horizont muss ihr von Kindesbeinen an Fernweh eingeflößt haben. So nimmt die älteste von mehreren Töchtern aus armen Verhältnissen es nicht dramatisch, als die Mutter sie an den Schausteller Zampano verkauft. Doch findet sie bei ihm nicht die ersehnte Zuneigung, der tumbe Muskelprotz, den Anthony Quinn so furchterregend wie bemitleidenswert darstellt, behandelt sie wie eine Sklavin. Fellini führt auf seine typische, schwungvolle Art verschiedene Stränge zusammen, aus denen nicht nur im Italien der Fünfzigerjahre die Seile geknüpft waren, mit denen Männer Frauen an ein Leben in Unfreiheit fesselten: die Logik des Marktes, die Frage der Identität, zum Beispiel was die Geschlechterrollen und die Klassenzugehörigkeit angeht, sowie das Vertrauen auf Gott als moralische Prinzipien der Gesellschaft.

Studiocanal © Die Nacht ist auch zum Tanzen da…

Studiocanal © Die Nacht ist auch zum Tanzen da…

Zampano kauft Gelsomina in dem er der Mutter 10.000 Lire zahlt, und er mindert seine eigenen Komplexe, indem er ihr jeglichen Schneid abzukaufen versucht. Kann sie nichts dagegen tun? Eine Nonne fasst Gelsomina gegenüber die göttliche Ordnung zusammen: Sie selbst folge dem Herrn im Himmel wie Gelsomina ihrem Herrn auf der Straße. Eines Tages trifft sie aber auf der Straße einen gutmütigen Artisten. Der schlägt vor, sie mit auf Tournee zu nehmen und ihr das Seiltanzen zu lehren. Ein echter Fellini-Moment. Verträumt schaut die unverhofft Umworbene in den Himmel, stellt sich vor, wie sie über den Köpfen des Publikums balanciert. Doch anders als Cabiria scheut Gelsomina das Risiko, hat den möglichen Absturz bereits vor Augen. Sie bleibt bei Zampano und La Strada endet tragisch. Die Nächte der Cabiria beginnt derweil mit einer Heldin, die für sich allein auf der Straße steht, erst recht nachdem der mörderische Giorgio getürmt ist. Doch Cabiria arbeitet bloß draußen, hat ein festes Dach über dem Kopf, das sie mit ihrer Arbeit als Prostituierte finanziert hat. Damit besitzt sie mehr als viele ihrer Kolleginnen und auch mehr als Gelsomina in La Strada. Alles Selbstwertgefühl zieht sie aus ihrer Unabhängigkeit und hält dennoch das Bild vom Mann ihrer Träume wie einen Fetisch in Ehren. Ihre Zukunft liegt in Ketten, so wie die der Gelsomina, wobei Cabiria nichts verlockender erscheinen könnte als das Gerassel der Ketten einer festen Verbindung.

Auf den Hund gekommen © Studiocanal

Auf den Hund gekommen © Studiocanal

Mambo und Beethoven

Eine erste aufregende Nacht verbringt Cabiria an der Seite und in den Gemächern des bekannten Schauspielers Alberto Lazzari. Der liest Cabiria nach einem Streit mit seiner Freundin trotzig von der Straße auf. Er nimmt sie sogar mit nach Hause, sichtlich angetan von ihrer unkonventionellen Lebensfreude, die sie beim geliebten Mambo-Tanz ausstrahlt. Doch gerade als Cabiria Lazzaris leckeres Essen kostet, sich den edlen Champagner munden lässt und ein Plätzchen neben dem Promi auf dem gemütlichem Bett in Aussicht hat, taucht dessen Liebhaberin vor der Tür auf und drängt auf Versöhnung. Hier wiederholt sich für Cabiria der Moment des sicher geglaubten, ja greifbaren Glücks, das ihr abermals sofort aus den Händen gleitet, ähnlich wie ein Luftballon, der mitsamt Schnur in den Himmel entschwebt. Im Nachhinein macht sie das Beste draus, als sie mit dieser Begegnung der unwahrscheinlichen Art und dem Hauch von süßem Leben in jener Nacht vor den übrigen Straßenmädchen prahlt. Wir denken da noch an ihren Kommentar zu Beethovens fünfter Sinfonie. Die sei nicht zum Tanzen – und wenn es nicht zum Tanzen ist, dann ist es keine Musik. Schöner hätte sie für Lazzari den Zauber, der ihrer Schlichtheit innewohnt, nicht auf den Punkt bringen könne, bevor er sie vor der Freundin im Bad versteckte. Das mag nach Screwball-Komödie klingen, ist aber so gar nicht komisch.

Moment der Verzweiflung © Studiocanal

Moment der Verzweiflung © Studiocanal

Während Gelsomina aus La Strada tatsächlich beim Zirkus landet, führt Cabiria bald ein Leben ohne Netz und doppelten Boden. Ihre clowneske Ausstrahlung – ein Fabelwesen aus Harpo Marx, Charlie Chaplin und sämtlichen weiblichen Filmdiven ihrer Zeit, gesegnet mit den staunenden Kulleraugen eines Kindes vorm Christbaum und der hemmungslosen Emotionalität des tschechischen Cartoon-Maulwurfs Krteček – entspringt einer paradoxen Inszenierung: Die großartige Schauspielerin Giulietta Masina spielt eine Frau, die zwar keineswegs gewillt ist, alles von sich preiszugeben, die aber nicht gut schauspielern kann. Ihre Tränen sind echt, und ihre Tränen sind dick. Gerade deshalb fühlen die Zuschauer*innen mit ihr. Masina wurde bei den Filmfestspielen von Cannes 1957 für die Darstellung der Cabiria mit dem Preis als beste Schauspielerin ausgezeichnet. Ihrem Gatten Federico Fellini verhalf sie zu Oscars für La Strada und Die Nächte der Caribia in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film. Als Fellini 1993 starb, waren die beiden seit 50 Jahren verheiratet. Nur fünf Monate später schied auch Giulietta Masina aus dem Leben.

Ihre Nacht auf der Bühne


Cabiria ist lang anhaltendes Glück nicht vergönnt. Ihren letzten Verehrer Oscar d`Onforio fleht sie an, er solle dafür sorgen, dass ihr Tod – und nicht nur seine Verderbtheit – sie scheide. Ein dramatischer Höhepunkt des Films. Doch zuvor macht die Heldin eine wichtige Erfahrung. Sie verrät uns viel über die Träume der Cabiria, aber auf der Varieté-Bühne und in der Show des Hypnotiseurs scheint auch das Verhältnis von Kino und Wirklichkeit auf. In Trance wandelt Cabiria über die Bühne und phantasiert Romantisches. Dabei wird sie vom Lichtstrahl eines Projektors erfasst als handele es sich nicht um eine Art Theater- sondern um eine Filmvorführung. Bildlich gesehen spielt der Hypnosekünstler die Doppelrolle des Regisseurs. Einerseits beutet er Menschen für seine Zwecke aus, indem er billige Unterhaltung produziert. Andererseits erinnert er uns mit allen Möglichkeiten der Kunst an unsere geheimsten Träume, die fiktive Figuren auf der Leinwand stellvertretend für uns erleben. Ein selbstreflexives Meisterstück Fellinis. Kaum verwunderlich, dass Cabiria nach ihrer so rührenden wie lächerlichen Vor- beziehungsweise Zurschaustellung im Varieté von Oscar auf der Straße angesprochen wird – fast so wie ein Filmstar. Schon stürzt sie sich ins nächste Unglück. Für ihn verkauft sie sogar ihr Heim und setzt ihre Eigenständigkeit komplett aufs Spiel. Warum nur, Cabiria?

Würdevoll und schön: Masina als Cabiria © Studiocanal

Würdevoll und schön: Masina als Cabiria © Studiocanal

Eine Anekdote aus den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts passt hier ganz gut: »Vater«, fragt ein Junge im Zirkus, »was macht denn der Mann auf dem Seil mit der Stange?« – »Dummer Junge, das ist eine Balancierstange, an der hält er sich fest.« – »Au, Vater, und wenn er die Stange fallen lässt?« – »Dummer Junge, er hält sie ja fest«. In Die Nächte der Cabiria ist es die Idee der wahren Liebe, an der sich Cabiria beim Balanceakt über den Abgrund des Lebens festhält – und an die sie sich gleichzeitig klammert, um nicht in diesen Schlund hinabzufallen, wohlwissend, dass jeder Fehltritt ihr letzter sein könnte. Es spricht gegen die Männer, dass sie die Liebe nicht zu schätzen wissen. Umso mehr spricht es für Federico Fellini, dass er sie in Giulietta Masina gefunden hat.

WF

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