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130 Jahre Kino: Der Film in Worten

Der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann, der dieses Jahr 85 Jahre alt geworden wäre, erfand als leidenschaftlicher Kinogänger, mit Godard und Co die Literatur neu.

11. November 2025

Wo Geschichten erzählt werden, ist die Literatur nicht weit: Schon die Kino-Pioniere Louis Lumière und Georges Méliès stützten sich auf literarische Vorlagen wie Faust und Aschenputtel. Doch abgesehen davon, dass die Grundlage der meisten Kinofilme verschriftlichte Anweisungen bilden und diese Drehbücher selbst wiederum als Literatur zu bezeichnen sind, gibt es einen weiteren starken Bezug zwischen den Künsten: Im Laufe des 20. Jahrhunderts zeigten sich immer mehr Schriftsteller*innen nachhaltig vom Kino inspiriert – und übernahmen die Eigenheiten des visuellen Mediums in ihre Arbeit am Wort.

In Deutschland machte in den 1960er Jahren der Wahlkölner Rolf Dieter Brinkmann von sich reden. Er verstand Prosa und Dichtung nicht nur als radikale Ausdrucksform eines Lebens, in dem er sich mit Haut und Haaren gegen gesellschaftliche Konventionen wehrte, für seine Texte erfand das Feuilleton auch die Kategorie Popliteratur, da er sich an der aufkommenden Populärkultur orientierte. Vor allem Comichefte und Kinofilme hatten es ihm angetan.

Brinkmann kombinierte Texte und Fotografien – sowie für diverse Radiobeiträge auch Sound – und holte die hochkulturelle Literatur von ihrem elitären Sockel, in dem er diesen gegen den Sessel im Kinosaal eintauschte. Zwar waren seine "Schnitte", die er als Technik etablierte, auch von William Burroughs' Cut-Up-Methode angeregt, doch die Analogie zum Film hatte bereits für Underground-Ikone Burroughs nahegelegen. Fernsehen dagegen blieb Brinkmann vielleicht deswegen fremd, weil die Flimmerkiste in Deutschland damals noch eine recht spießige Angelegenheit war, das Kino bot spannenderes Programm – Frankreich, Italien, England und USA sei Dank.

Brinkmann mochte die New Yorker Untergrund-Szene, britisches New Cinema und die Nouvelle Vague. Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß von Jean-Luc Godard würdigte er in seiner Besprechung im Kölner Stadt-Anzeiger durch eigene Reflexionen, die denen des Regisseurs komplett widersprachen. Womit er die Zeitungsseiten und den Kinosaal zur politischen Bühne machte. Godard blieb natürlich bei aller Kritik ein wichtiger Bezugspunkt.

© Umschlagabbildung: Rolf Dieter Brinkmann in Rom, Villa Massimo 1972/3. Foto von Günther Knipp.

© Umschlagabbildung: Rolf Dieter Brinkmann in Rom, Villa Massimo 1972/3. Foto von Günther Knipp.

Rolf Dieter Brinkmann drehte keine Filme, führte aber ein filmreifes Leben, wie man in der Biografie "Ich gehe in ein anderes Blau" nachlesen kann. 2025 jährte sich sein Todestag zum fünfzigsten Mal, 1975 kam er in London buchstäblich unter die Räder. Er war erst 35 Jahre alt, als er dort von einem Auto überfahren wurde. Wichtiger noch als sein Filmgeschmack, so lernen wir aus dem Buch über seine stets prekäre Schriftstellerexistenz, war das prinzipielle Bekenntnis zum Kino, das ihn von den meisten bürgerlichen Kolleg*innen unterschied.

So antwortete er mal auf die Frage, was er am liebsten tun würde: "Ins Kino gehen". Brinkmann war fasziniert vom Medium Film "wo in 1,5 Std. die wüstesten Ereignisse passieren durch bewegtes Licht und Schatten." Die vermeintlich oberflächliche Kunst der eskapistischen Unterhaltung im Konsumtempel Kino hatte bereits für den jugendlichen Brinkmann eine tiefenpsychologische Dimension:

"Damals musste ich mich immer heimlich ins Kino schleichen, in die Tonhalle, nachmittags um 5 Uhr, und mußte oft das Kino vor dem Schluß verlassen, um rechtzeitig um 7 Uhr zum Abendessen da zu sein." Beinahe täglich ging der Junge aus dem Oldenburgischen Vechta ins Kino, als "Flucht vor der bedrückenden Situation in der Schule und zu Hause. Die Tonhalle neben der Wassermühle, eine ehemalige Turnhalle, in der sich das Metropol-Kino eingenistet hatte, wurde für ihn zur Traumhalle." Viele Jahre später prägte er für seinen revolutionäre Umgang mit Text und Bild und Ton den Begriff "Der Film in Worten".

Dem lebensverändernden Kino widmete Rolf Dieter Brinkmann eines seiner unzähligen Gedichte, in denen er den Alltag mit fast schon dokumentarischer Genauigkeit einfing: "Im Dunkeln/ war das ein Ort/ wo er schon oft// gewesen war/ trotzdem/ blieb er auch diesmal." Wahrhaftiger kann man kaum ausdrücken, welche Anziehungskraft die Leinwand besitzt. Anders gesagt: In jeder Sekunde, die man im Kino verbringt, steckt womöglich ein ganzer Roman – aber mindestens ein Gedicht.

WF

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