Wir haben uns gerade erst in diesem Monat drei wunderschöne Boxen ins Regal gestellt: Moralische Erzählungen, Komödien und Sprichwörter und Erzählungen der vier Jahreszeiten. Lange bevor es also Harry Potter-, Avengers- oder HBO-Serienboxen gab, hatte Éric Rohmer die Ambition und die Geduld, ein großes Thema aus verschiedenen Blickwinkeln und in mehreren Filmen anzugehen. Damit wollte er zwar auch dem jeweiligen Oberthema gerecht werden, aber gleichzeitig mit Geduld und guten Filmen sein Publikum überzeugen. 1971 sagte er in einem Interview über den Zyklus Moralische Erzählungen: "Ich dachte mir, dass Zuschauer*innen und Produzent*innen meine Ideen eher akzeptieren, wenn sie in verschiedenen Formen kommen. Anstatt mich zu fragen, welche Themen das Publikum am ehesten interessiert, kam ich zu dem Schluss, dass es der beste Weg sei, das gleiche Thema sechsmal zu erzählen. In der Hoffnung, dass es spätestens beim sechsten Mal zu mir käme." Tja, hat geklappt. Und zugleich den Effekt, dass man selbst beginnt, sich komplexen Themen wie "Moral" von mehreren Blickwinkeln zu nähern.
Bild aus "Meine Nacht bei Maud"
Quentin Tarantino sagt einmal recht süffisant, man müsse einen Rohmer-Film schauen, um zu testen, ob man drauf steht. Denn wenn einem einer gefiele, dann alle. Das etwas zweischneidige Kompliment spielte vor allem auf die Dialogfülle der Rohmer-Filme an – was natürlich nicht einer gewissen Ironie entbehrt, immerhin ist Tarantino ja auch eher eine Quasselstrippe. Rohmers Dialoge über die Liebe, die Moral und die Sinnsuche sind dabei jedoch oft ganz nah am Leben und deshalb auch manchmal eher angenehm mäandernd als künstlich auf Pointen getrimmt. Seine Arbeitsweise erklärte Rohmer in diesem Interview mit dem Filmmagazin Revolver sehr schön: "Ich arbeite allein und habe keinen Drehbuchautor. In gewisser Hinsicht ersetzen mir meine Darsteller diese Rolle. Aber sie sind nicht wirklich meine Drehbuchautoren. Ich stelle ihnen Fragen, die ich anschließend normalerweise nicht verwende. Manchmal geht das allerdings so weit, dass sie mir tatsächlich Dialogsätze liefern. Zum Beispiel für Die Sammlerin habe ich Tonbandaufnahmen gemacht und den Aufnahmen Dialoge entnommen. Bei Moralische Erzählungen habe ich dieses Verfahren ausgiebig angewendet und fast bei allen Filmen der Komödien und Sprichwörter. Manchmal hat sich der Charakter einer Figur durch die Diskussionen mit den Schauspielern angereichert oder verfeinert. Es gibt Schauspieler, denen ihre Figuren sehr stark ähneln. Es gibt andere, die keinerlei Anteil an der Kreation ihrer Figur haben. Im Allgemeinen sind die weiblichen Darsteller näher an ihren Figuren als die männlichen."
1985 konzipierte die Cartoon-Zeichnerin Alison Bechdel in ihrem Comic "Dykes To Watch Out For" einen Test, der Stereotypisierungen weiblicher Figuren in Spielfilmen offenlegen sollte. Er besteht aus drei Fragen: Gibt es mindestens zwei Frauenrollen? Sprechen sie miteinander? Unterhalten sie sich über etwas anderes als einen Mann? Die Ergebnisse sind bis heute oft niederschmetternd, wie man hier sehen kann. Bei Rohmer spielten Frauen schon immer tragende Rollen, als Schauspielerinnen, mit denen er nach der oben beschriebenen Technik Dialoge entwickelte, ebenso wie als Mitglieder seiner technischen Teams. Ein gutes Beispiel ist Pascale Ogier, die bisweilen nicht nur vor der Kamera stand, sondern manchmal auch für das Szenenbild, die Frisuren und die Kostüme zuständig war. Durch Rohmers Arbeitsweise und die vielen Gespräche mit seinen Darstellerinnen gelingt es ihm mit den Jahren immer besser, sich in die weibliche Perspektive zu versetzen. Zur Zeit des Drehs von Das grüne Leuchten (1986) sagt er einmal: "Ich spüre das weibliche Herz in mir selbst."
Bild aus "Die Sammlerin"
Éric Rohmer ist kein Regisseur, der uns seine Meinung aufdrückt und den moralischen Zeigefinger schwingt. Was eigentlich erstaunlich ist, für einen, der uns Moralische Erzählungen beschert hat. Aber Rohmer glaubt nicht an das politische Predigen, er setzt auf menschliche Versuchsanordnungen, in denen er verschiedene Weltsichten in den Dialog zwingt. Eine Technik, die in einer Zeit der wild aneinander vorbei schreienden Filterblasen sehr inspirierend wirkt. Im Revolver-Interview sagt Rohmer dazu: "Das ist auch in meinen politischen Filmen nicht anders, zum Beispiel in Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek. Die Figuren haben dort recht eindeutige Ansichten, aber man spürt, dass die Wahrheit nicht in dem liegt, was einzelne Figuren sagen, sondern was der Dialog ergibt. Jede Figur steuert dabei sowohl Wahres als auch Falsches zur Geschichte bei. Die Figur kann Recht haben, aber auch falsch liegen. Diese Zwiespältigkeit ist aber nicht in der einzelnen Figur angelegt, sondern im Figurenensemble."
Gut, das haben wir uns geklaut, aber weil es so schön ist:
Das Filmwerk von Éric Rohmer ist, nun ja, recht umfangreich und schafft es auf rund 30 Spielfilme. Dass er es in seinem Leben, das bekanntlich am 11. Januar 2010 in Paris ein Ende fand, auf diese stattliche Zahl brachte, lag nicht nur an seiner Kreativität sondern auch an seiner Arbeitsweise und seinem finanziellen Set-up. Mancher Kollege nannte Rohmer damals gar "knauserig", da er mit kleinen Teams arbeitete, in denen einige Leute, wie er selbst, gleich mehrere Rollen ausfüllen mussten. So mancher preisgekrönte Kinofilm in seinem Oeuvre entstand mit einem Produktions-Team von lediglich acht Personen. Das ist die Zahl, die heutzutage bei einem Hollywood-Blockbuster oft schon bei den Drehbuchautoren auftaucht. Mit seiner Produktionsfirma Les Films du Losange, die er mit Barbet Schroeder gründete, sorgte Rohmer außerdem dafür, dass er seine Kunst ohne Zwänge von außen inszenieren konnte.
Rohmer gründete 1950 mit Jacques Rivette und Jean-Luc Godard die nur kurz aufblühende Filmzeitschrift "La gazette du cinéma", aus der jedoch die zweite Welle der Nouvelle Vague erwachsen sollte. Auch wenn Rohmer anfangs nicht so bejubelt wurde wie Truffaut mit Sie küssten und sie schlugen sich und Godard mit Außer Atem, zeichnete sich spätestens nach Meine Nacht bei Maud ab, dass er in dieser prägenden Zeit eine Sonderrolle innehatte. Denn auch hier zeigte sich Rohmers Liebe zum Wort, die in Rohmers strengem stilistischen Purismus noch mehr erblühen konnte und die er über die Jahre zu seiner Handschrift machte. Die Zeitung "Die Welt" lag also goldrichtig, als sie Rohmers Nachruf den schönen Titel "Poet der Nouvelle Vague" gab.
11. Rohmer geht immer
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100. Rohmer geht immer
(P.S. Man verzeihe uns diesen letzten Gag, aber dieser Satz "Rohmer geht immer" taucht irgendwie in jeder Redaktionskonferenz auf, wenn wir über neue Themen sprechen und hat sich deshalb zum geflügelten Wort in unserem Team entwickelt. Und wenn es eine Chance gibt, das mal hier so geballt zu droppen, dann doch wohl zum 100. Geburtstag.)
DK