Wer stabile Filme über die Working Class schauen will, landet schnell beim britischen Regisseur Ken Loach. Der liefert seit Mitte der 60er Dramen, Dokumentationen und Tragikomödien, die sich der Arbeiterklasse widmen und von ihren Sorgen, Ängsten und Kämpfen erzählen. Loach veröffentlichte 2023 seinen offiziell letzten eigenen Film The Old Oak, bei ARTHAUS gibt es von ihm The Angel's Share, in dem eine Gruppe von Außenseiter einen kostbaren Whiskey stielt, und Ich, Daniel Blake, in dem wir einem Schreiner folgen, der plötzlich nach einer Krankheit arbeitslos wird und sich in einem abgefuckten Sozialsystem zurechtfinden muss. Was sehr gut zu diesem Text passt, denn irgendwie könnte man heutzutage den Eindruck bekommen, auch das proletarische Kino sei gerade ohne Festanstellung – oder schon im Feierabend.
An dieser Stelle sollte man kurz über Begrifflichkeiten reden: Die Bezeichnung "proletarischer Film" oder "Arbeiterkino" meint mit Blick auf die deutsche Filmgeschichte eigentlich ungefähr die Zeit von 1925 bis 1933, in der vor allem die KPD, die Gewerkschaften und die SPD Filme für die Arbeiter*innenbewegung produzierten. Einer der bekanntesten davon ist sicher der Tonfilm Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? aus dem Jahr 1932, an dessen Drehbuch auch Berthold Brecht mitgeschrieben hatte. Wir fassen diese Bezeichnungen jedoch ein wenig weiter – und meinen auch und vor allem spätere Filme, die eine ähnliche Mission verfolgen, aber schon gelernt haben, dass man Bildung ein wenig mehr mit Unterhaltung verbinden muss.
Das hatte wenige Jahre später in den USA zuerst Charlie Chaplin verstanden. Kaum jemand hat die Absurdität der Optimierung des industriellen Arbeitsprozesses und den monotonen Alltag der Fließbandarbeit so genial in Szene gesetzt wie Chaplin 1936 in seinem Klassiker Moderne Zeiten.
In der BRD blühten Filme über die Working Class und ihre Held*innen vor allem in den 70ern und 80ern wieder auf. 1972 und 1973 konnte man die WDR-Produktion Acht Stunden sind kein Tag von Rainer Werner Fassbinder im bundesdeutschen TV sehen. Das Enfant Terrible des deutschen Films zu der Zeit nannte seine Arbeit eine "proletarische Fernsehserie". Aber von der üblichen TV-Kost war Fassbinder da schon weit entfernt. In seinem Fünfteiler Acht Stunden sind kein Tag geht es um die ganz banalen Probleme der Arbeitswelt im Industriebereich und um das Schicksal einiger Werkzeugmacher. So werden hier – kurz vor dem realen "Gastarbeiterstreik" bei Ford im August 1973 – unter anderem herrschende Vorurteile gegen Migrant*innen sichtbar, außerdem geht es um Mitbestimmung in Betrieben oder das Problem nicht bezahlbarer Mieten. Das klingt auch heute noch sehr aktuell.
Bei ARTHAUS kann man außerdem Margarethe von Trottas Blick auf das Leben der Rosa Luxemburg sehen, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts um die internationale Solidarität der Arbeiterklasse bemühte, die sie als Bastion gegen Nationalismus, Rassismus und Kriegstreiberei sah. Von Trottas Film, mit einer fantastischen Barbara Sukowa in der Rolle der Rosa Luxemburg, kam 1986 in die Kinos und feierte die Heldin der Arbeiterklasse durchaus angemessen – und zeigt ihr tragisches Schicksal.
In den 90ern charmierten sich vor allem diverse britische Mitglieder der Working Class in die Herzen des Kinopublikums. Neben der Tragikomödie The Full Monty – Ganz oder gar nicht, in dem eine Gruppe arbeitsloser Männer zur Stripper-Truppe wird, war es vor allem der im Kern eher romantische Brassed Off – Mit Pauken und Trompeten (1996) mit Tara Fitzgerald (als Gloria) und Ewan McGregor (als Andy) in den Hauptrollen, der britische Arbeits(losikeits)-Realitäten auf die Leinwand brachte. 1997 standen in England Unterhauswahlen an, die Krisen in britischen Bergbaustädten wurden immer offensichtlicher, und die Auseinandersetzung zwischen Eliten und Working Class wurden beinahe täglich geführt. Gloria, die sich in Andy verliebt, besiegelt das Schicksal jener Zeche, in deren Brass-Band sie spielt. Der Film schafft es dabei vor allem, all jenen Menschen ein Gesicht, eine Story, eine Stimme und ein Herz zu geben, die durch die harte Politik ihren Job verloren haben. Der größte Moment ist sicher die Rede des Bandleaders Danny am Ende des Films.
Und hier kommen wir rein zeitlich zur polemisch-proletarischen Frage, die wir in der Headline zu diesem Artikel stellten. Wo gab es denn die Working Class in den letzten Jahren im Kino oder im Fernsehen? Schauen wir doch erst mal auf den ebenfalls eingangs erwähnten Ken Loach und fragen, was er zum Zustand des Working Class Cinemas sagt? Loach betonte erst 2023 in einem Interview, dass der essenzielle, alle Themen prägende Konflikt unserer Zeit noch immer der zwischen den Wohlhabenden und den Arbeitenden sei. "Deshalb ist die Arbeiterklasse das wesentliche Thema, über das wir Filme machen müssen, denn sie ist die Klasse, die die Veränderungen bewirken kann. Wir müssen die Geschichte der Arbeiterklasse erzählen, die Geschichte ihrer Kämpfe, um zu zeigen, wo wir hätten gewinnen können. Und wir müssen die Klassenkräfte entlarven, die gegen uns sind. Das ist das wesentliche Thema."
Wer genau schaut und die historisch sehr eng gefasste Bezeichnung "Arbeiterkino" hinter sich lässt, findet auch in der Jetztzeit und der jüngeren Vergangenheit immer wieder starke Filme und Serien, die im Grunde die Nöte und die Ausbeutung der Arbeitenden in den Mittelpunkt stellt. Erst kürzlich ging die zweite Staffel der Apple-TV-Serie Severance zuende, die unter dem Deckmantel von Science Fiction und Satire die modernen Büroarbeiter*innen zum Thema nimmt und sehr kluge Fragen stellt – vor allem mit Blick auf die Möglichkeiten der Tech-Companies, Arbeitende noch gefügiger und produktiver zu machen. In eine ähnliche Kerbe schlägt der surreale Sorry To Bother You von Boots Riley aus dem Jahr 2018.
Auch viele Dokumentarfilmer*innen zeigen sich stabil, wenn es um die Themen Kapital und Ausbeutung geht. Auf der Basis von Thomas Pikettys Weltbestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert erklärte zum Beispiel Justin Pemberton in seinem gleichnamigen Dokumentarfilm vor einigen Jahren die Schwächen des modernen Kapitalismus. Wer auf Grund des Titels ein Marx-Update erwartet, dürfte je nach Sichtweise enttäuscht oder heilfroh sein. Der französische Ökonom Piketty, der hier selbst zu Wort kommt, ist kein Revolutionär – die Gesellschaft aber will er dennoch grundlegend reformieren. Eine rosige kapitalistische Zukunft, die für alle lebenswert wäre? Sieht er nicht. Dafür den "Sozialstaat für das 21. Jahrhundert" und andere Realo-Utopien. Gerade jetzt ein Must-See.
Ein sehr aktuelles Beispiel für einen wahren Working-Class-Film ist die neue Dokumentation Die wundersame Verwandlung der Arbeiterklasse in Ausländer des Zürcher Regisseur Samir, der die Schattenseiten der Schweizer Migrationsgeschichte beleuchtet und zeigt, wie die sozialdemokratische Arbeiterkultur und die solidarischen Errungenschaften der Schweizer Gewerkschaften ab den 1970er-Jahren mit Stimmungsmache gegen vermeintliche "Ausländer" ausgehebelt wurden.
Es schuftet und rackert also noch immer, dieses Arbeiter*innen-Kino, auch wenn diese Genre-Schublade im Diskurs schon ein wenig Staub angesetzt hat.
Daniel Koch