Detailsuche

Bild zu Der Kopf als Geisterhaus: Eine Verneigung vor Bergmans Die Stunde des Wolfs

Der Kopf als Geisterhaus: Eine Verneigung vor Bergmans Die Stunde des Wolfs

Düsternis und die Grauen der menschlichen Psyche waren Ingmar Bergman nie fremd, dennoch wird nur einer seiner Filme dem Horror-Genre zugerechnet: Die Stunde des Wolfs. Aufarbeitung eines unterschätzten Albtraum-Klassikers.

20. Mai 2025

Das Werk Ingmar Bergmans – allen voran Monumente wie Persona, Das siebente Siegel und Wilde Erdbeeren – wurde über die Jahrzehnte hinweg von vorne bis hinten und wieder zurück durchseziert, analysiert und interpretiert. Doch Die Stunde des Wolfs genießt weniger Ruhm, weniger Aufmerksamkeit und Bewunderung. Dabei haben der surrealistische Symbolismus, die düstere Bildsprache und der psychotische Terror Töne anklingen lassen, die bis heute im Horror-Genre nachhallen.

Als direkter Nachfolger von Bergmans Jahrhundertwerk Persona hatte es Die Stunde des Wolfs von Anfang an nicht leicht. Ein Film, der im Schatten eines solchen Opus magnum entsteht, kann ja nur verlieren. Die Kritik zur Veröffentlichung war letztendlich auch wenig beeindruckt von der Genre-Experimentation des Filmemachers, sprach von Unzugänglichkeit und Rückschritt. Mit über einem halben Jahrhundert Distanz können wir nun, wie so oft, sagen: Was lagen die falsch!

Typische Existenzkrisen

Die Stunde des Wolfs und Persona gegeneinander aufzuwiegen, ist allein deswegen schon ungerecht, weil beide Filme zusammengehören; weil einer den anderen Film erst ermöglichte. Die inhaltlichen Parallelen des Verfalls der Künstler:innenseele und der Angleichung zweier eng verbundener Charaktere in der Abgelegenheit einer nordischen Meeresidylle sind unverkennbar. „Die Stunde des Wolfs wird von manchen als Regression nach Persona gesehen. Es ist nicht so einfach“, erklärt Bergman selbst einmal. „Persona war ein Durchbruch, ein Erfolg, der mir den Mut gab, weiter entlang unbekannter Pfade zu suchen. Wenn ich ihn heute sehe, verstehe ich, dass er von einer tiefen Spaltung in mir handelt [...] Die Stunde des Wolfs war wichtig, weil es ein Versuch war, eine schwer auszumachende Menge an Problemen zu umkreisen und hineinzugelangen.“

Video kann aufgrund der gewählten Cookie-Einstellungen nicht gezeigt werden.

Im Herzen ist Die Stunde des Wolfs damit ein quintessenzieller Bergman-Film – wie so oft bei ihm vielleicht mehr künstlerisches Selbstgespräch als Versuch der Kommunikation mit dem Publikum –, der sich mit existenziellen Krisen der Identität und Einsamkeit befasst: Der Maler Johan Borg (Max von Sydow) zieht sich mit seiner Frau Alma (Liv Ullmann) auf die kleine ostfriesische Insel Baltrum zurück, um Ruhe zu finden. Der friedvolle Rückzugsort wird jedoch bald zum isolierenden Gefängnis, in dem Borg langsam den Verstand verliert. Nachts kann er nicht schlafen und wird geplagt von Visionen von „Dämonen“, „Geistern“ und „Menschenfressern“, die Stoff für so manches Creature Feature bieten würden: Spinnenmänner, eine alte Frau, die zusammen mit ihrem Hut ihr ganzes Gesicht abnimmt, ein Vogelmensch, inspiriert von Mozarts Papageno. Die Charaktere bedrängen das Paar im Laufe des Films immer mehr, peinigen und demütigen sie auf unmenschliche und irgendwie doch sehr menschliche Weise. Genau betrachtet, nimmt Bergman hier die Handlung des zwölf Jahre später erscheinenden The Shining vorweg.

Verfall von innen

Dabei ist der Film, typisch Bergman, gespickt mit Querverweisen und Parallelen zu anderen Filmen des Schweden, die weit über seinen Dreh- und Lebensmittelpunkt Fårö, sich wiederholende Charakternamen und seine Standardbesetzungen hinausgehen. Ein entscheidender Unterschied, der den für ihn ungewöhnlichen Horror hier aber erst möglich macht, ist ein Perspektivwechsel: Anders als in Bergmans meisten Filmen – darunter auch Persona – beobachten wir den psychischen Verfall nicht nur von außen, sondern werden in das Innenleben des Protagonisten eingelassen. Von dort aus sehen wir seine Albträume und Halluzinationen als Teil seiner Wirklichkeit.

Basierend auf Johan Borgs Tagebuch und den Erinnerungen seiner Frau, stützt sich der Film komplett auf unzuverlässige Erzähler:innen und stellt uns somit fortwährend die Fragen: Was ist echt? Was sind nur Produkte eines kranken Verstandes – oder vielmehr: einer Folie à deux? Denn Alma beginnt augenscheinlich, sich mit in Johans mentale Abwärtsspirale zu begeben. In der dokumentarischen Schlussszene fragt sie in die Kamera: „Ist es nicht so, dass eine Frau, die lange mit einem Mann zusammenlebt, im Laufe der Jahre diesem Mann ähnlich wird? Ich meine, wenn sie ihn liebt, beginnt sie zu denken wie ihr Mann, zu sehen wie er. […] War es deshalb möglich, dass ich auch diese Gestalten sah?“

© 1968 AB Svensk Filmindustri

© 1968 AB Svensk Filmindustri

Die Stunde des Wolfs ist gezeichnet von einer starken visuellen Sprache – einige der eindringlichsten Bilder in Ingmar Bergmans Schaffen verstecken sich in diesen knapp 90 Minuten Filmgeschichte. Da wäre natürlich einmal seine unvergleichliche Lichtsetzung, die den symbolischen Konflikt von Licht und Schatten – von Liebe und der dunklen Nacht der Seele – besonders gut verdeutlicht; nicht zu vergessen seine typischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, reduziert und ehrlich, die hier mehr denn je wie ein bewusstes dunkles, dramatisches Stilmittel wirken: Die visuelle Düsternis, Monotonie und Farblosigkeit legt sich über die Protagonist:innen und die Handlung wie ein schwerer Schleier. Auch im modernen „elevated Horror“ von Robert Eggers’ The Lighthouse über Ana Lily Amirpours A Girl Walks Home Alone At Night bis hin zu A Field In England und November sehen wir das zuletzt immer wieder.

Die schönsten Albträume

Zwei Szenen stechen in Die Stunde des Wolfs besonders heraus und verfolgen die Zuschauer:innen noch lange, nachdem der Abspann abgelaufen ist: In einer davon erinnert sich Johan an den vermeintlichen Mord an einem kleinen Jungen am Strand. Die Sequenz ist, anders als der Rest des Films, stark überbelichtet und durch hohe Kontraste ausgezeichnet; die Schnitte sind hektisch und aggressiv; der untermalende Score so präzise, so brutal, so messerscharf, dass selbst Hitchcocks Duschszene in Psycho blass aussieht. Es ist eine grausame Darstellung, eine grausame Tat. Aber ist sie wahr? Wie so oft findet man die Antwort vielleicht in einem anderem Film Bergmans: In Wilde Erdbeeren etwa verwendet der Regisseur die gleiche überbelichtete, kontrastreiche Ästhetik für eine Traumsequenz – möglicherweise ein Hinweis darauf, dass auch diese Erinnerung nur Fiktion ist.

In der Szene sieht man mehrmals, wie der Junge nach Johan schnappt, um ihn zu beißen, auch in den Hals. Damit greift Bergman das Vampir-Motiv auf, das er bereits in Persona angedeutet hat. Es ist nicht das einzige Folk-Horror-Element des Films: Schon der Titel Die Stunde des Wolfs weckt Assoziationen zu Werwolfs-Geschichten, die „Dämonen“ in Johans Kopf könnten ebenso aus alten Volksmärchen stammen. „Er machte die besten Fantasien und Träume in Filmen“, befindet einst Martin Scorsese. „Er hat Dinge zum Funktionieren gebracht: Menschen ohne Gesichter und sowas, wo man normalerweise Make-Up oder Kostüme erkennt. Bei ihm war es egal, es hat einfach funktioniert. In Die Stunde des Wolfs treibt er das an die Grenzen. Er spielt da mit Bildern rum, die man zu dieser Zeit aus dem italienischen Horror oder manchen Hammer-Filmen kannte.“

© 1968 AB Svensk Filmindustri

© 1968 AB Svensk Filmindustri

Eine weitere Schlüsselszene des Films basiert auf einem Albtraum von Ingmar Bergman selbst und war eine der frühesten Inspirationen für das Projekt: Einer der Charaktere läuft darin eine Wand hinauf, bis an die Decke. „Glauben Sie mir, es ist nur Eifersucht. Bitte gehen Sie weg“, entschuldigt er sich gequält. Jahrzehnte später sagt David Cronenberg über den Einfluss dieses Moments: „Das war ein wunderschöner Film, ein richtiger Albtraum. Und er hatte eine besondere Relevanz für mich, denn als ich Die Fliege gedreht habe, hatte ich eine Szene, in der Jeff Goldblum die Wand und Decke hochklettern musste. Ich habe mich erinnert, dass es in diesem Film so eine Szene gibt: ein Mann, so gequält und von emotionalem Schmerz geplagt, dass ihn das die Wand hochlaufen lässt. Sehr schwedisch.“ Nicht zuletzt wegen dieser Szene ist Bergman für ihn „einer der Maßstäbe, wenn es um den Film als Kunst“ geht.

Realitätsbewältigung

Spätestens hier wird die biografische Relevanz von Die Stunde des Wolfs für Ingmar Bergman deutlich. Es ist kein Geheimnis, dass der Filmemacher aus zutiefst intimen Inspirationsquellen schöpfte und in seinen Filmen oft sein persönliches Leben verarbeitete. Sie sind der Ausdruck emotionaler und mentaler Zustände. Auch die quälende, die oft gewaltsame Eifersucht, die einen die Wände hochgehen lässt, gehört dazu, wie Hauptdarstellerin Liv Ullmann 2012 in der Dokumentation Liv & Ingmar erklärt. Zur Zeit der Dreharbeiten ist sie mit Bergmans Kind schwanger, beide haben nach dem ersten gemeinsamen Film Persona ihre Ehepartner:innen verlassen und leben nun – auf Bergmans Wunsch hin – gemeinsam auf Fårö.

Auch er leidet wie sein Protagonist an Insomnie, verbringt ganze Tage und Nächte in der Isolation seines abgeschiedenen Heims und seines Kopfes, ohne dass Ullmann an ihn rankommt. „In den Nächten, in denen er nicht schlafen konnte, lag ich stumm neben ihm – ängstlich davor, was er dachte. Vielleicht, dass ich kein Teil der Insel war; dass ich die Harmonie zerstörte, die er für sich in der Natur und Ruhe, die ihm so viel bedeutete, zu erschaffen versuchte.“ Dieser Monolog hätte auch für ihre Rolle Alma geschrieben sein können. Damit ist Die Stunde des Wolfs nicht nur, wie etwa Psychologin Barbara Young befand, die Geschichte der „Desintegration einer Persönlichkeit“, sondern auch der Desintegration einer Beziehung – des Verlusts einer Liebe an den Wahnsinn einer Person, die sich selbst verliert.

Bergmans Eraserhead

Johan erklärt Alma in einer Szene die Stunde des Wolfs als die schlimmste, die schwierigste Stunde der Nacht. „In dieser Stunde sterben die meisten und die meisten Kinder werden geboren. Es ist die Zeit der Nachtmahre, weißt du.“ Dieser Film war Bergmans Versuch, seine eigene Stunde des Wolfs zu überkommen und seine eigenen Dämonen zu bekämpfen. Frei nach einem populären Meme: „Männer drehen lieber einen genreprägenden Film, als zur Therapie zu gehen.“ Damit ist und war Ingmar Bergman natürlich nicht alleine: Die Stunde des Wolfs ist sowas wie sein Eraserhead. Denn ganz im Geiste von Bergman verfilmt auch David Lynch neun Jahre später eine existenzielle Krise mit ähnlichen, symbolisch aufgeladenen stilistischen Mitteln: das Verwischen von Genre-Grenzen, Schwarz-weiß-Look, surreale Geschehnisse und Charaktere, die Vermischung von Fantasie und Wirklichkeit – der eigene Kopf als Geisterhaus.

© 1968 AB Svensk Filmindustri

© 1968 AB Svensk Filmindustri

In Lynchs Spielfilmdebüt geht es um das Thema Vaterschaft, und auch Bergmans Protagonist erwartet Nachwuchs. Beide Männer sehnen sich nach anderen Frauen, beide sind gefangen in innerer und äußerer Isolation, entfremden sich von ihren Mitmenschen und der Realität inmitten einer tiefsitzenden Panik, eine bestimmte Rolle erfüllen zu müssen, jedoch nicht zu können. David Lynch war bekennender Bergman-Fan, beide sind Meister des langsamen Erzählens. Besonders zwischen Mulholland Drive und Persona werden gern Parallelen gezogen, doch auch die düstere, psychotische Fantastik hat sich so unmittelbar von Die Stunde des Wolfs auf Eraserhead übertragen, dass man es nicht ignorieren kann.

Der Film ist eine beeindruckende spirituelle Exkursion in Gefilde, in die sich damals nur wenige gewagt haben, und die auch Ingmar Bergman bald wieder hinter sich gelassen hat: In den Siebzigern arbeitet er deutlich weniger experimentell – vielleicht auch weniger existenziell. „In Die Stunde des Wolfs gibt es keinerlei Distanz oder Objektivität“, sagt er mal. „Früher habe ich mich gern abschätzig über Die Stunde des Wolfs geäußert, vermutlich, weil der Film verdrängte Seiten meines Selbst berührte.“ Der Einfluss des Filmemachers ist unumstritten – klar, man erkennt ihn seit über 50 Jahren in fast jedem Genre, in jeder Generation. Doch, was weniger anerkannt ist: Es ist auch nahezu unmöglich, moderne Filme im Spannungsfeld von Folk- und Psycho-Horror zu sehen– von Ari Aster etwa, von Robert Eggers oder Veronika Franz & Severin Fiala –, ohne darin den Geist von Die Stunde des Wolfs zu erkennen. Er machte Horror nicht zum Selbstzweck, sondern zum Ausdruck eines tiefen mentalen und emotionalen Leids und nimmt damit eine Vorreiterrolle ein. Dass solch ein Film lediglich zur B-Riege der Bergman-Filme gehört, ist einerseits eine Schande, zeigt jedoch gleichermaßen: Das Niveau, auf dem dieser Mann agierte, ist geradezu unvorstellbar.

Christina Wenig

Dazu in unserem Magazin

Arthaus Stores

Social Media